Die Grenze (fm:Dreier, 905 Wörter) | ||
Autor: testsiegerin | ||
Veröffentlicht: Nov 11 2013 | Gesehen / Gelesen: 22263 / 13935 [63%] | Bewertung Geschichte: 8.11 (53 Stimmen) |
Sie hatte Angst, die Grenze zu überschreiten. Aber da war auch die Lust. Und das Wissen, danach würde sie sich besser fühlen, schöner... |
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Meine allererste Geschichte war das...
"She walks softly and carries a big gun..." tönte es aus dem Autoradio. Da war sie wieder, die Grenze. Wie jeden ersten Freitag im Monat machte der Schlagbaum ihr die eigenen Grenzen bewusst.
Sie stand im Stau. Es staute sich vor ihr. Hinter ihr. In ihr. Aufgestaut. Die Mittagssonne prallte ungebremst auf das Lenkrad, auf dem zwei Hände den Rhythmus der Musik mittrommelten. Ihre Hände.
Vorne bei der Passkontrolle marschierte eine Zollwachbeamtin allein im Gleichschritt auf und ab. Ihr Anblick hatte etwas Einsames. "She walks softly and carries a big gun."
Sie kramte in ihrer Handtasche. Suchte den Lippenstift, der ihre blassen Lippen schützte und Sicherheit und Stolz vortäuschte. Der ihre Angst blutrot übermalte. Die Handtasche war ein Spiegel der weiblichen Seele. In der Sonntagsbeilage der Zeitung zeichneten Prominente ihren Tascheninhalt und gaben so ihr Leben der Leserschaft preis. Lieferten die Innenwelt der Außenwelt aus. Oder bewahrten ihr Innerstes vor der Auslieferung, indem sie zum Schein Erfrischungstücher, Feuerzeuge und Organspender-ausweise herausholten.
Sie täuschte in erster Linie sich selbst. In ihrer Tasche war nichts, das andere Menschen spannend finden können hätten. Mit o.b., Slipeinlagen, Nagelfeile, Handy, dem Kalender und den Schlüsseln könnte sie niemanden beeindrucken. Ein paar Kugelschreiber, ein Bleistiftspitzer, aber kein Bleistift. Ein Bild, das ihre Tochter für sie gemalt hatte. Sie selbst in roten Stiefeln, mit Leopardenstrumpfhose und Lippen im selben knallrot wie die Stiefeln. So sah ihre Tochter sie also. Zwei Taschen-bücher, obwohl sie nie las, wenn sie ihre "Ausflüge" über die Grenze machte. Taschenbücher und Taschentücher. Für die Tränen, die sich später ihren Weg über ihre Wangen bahnen würden.
Aber wen interessierte das schon? Sie war nicht prominent. Sie war eine ganz normale Frau, ständig auf der Suche nach ihren Grenzen. Ständig konfrontiert mit ihren Ängsten. Ihren Unzulänglichkeiten. Ihrem Mangel an Makellosigkeit.
Sie kramte weiter. Suchte, ohne zu wissen, wonach. Nach dem Sinn vielleicht, doch der war da nicht. Die CD der Knef. Aber es regnete keine roten Rosen. Es regnete nicht einmal ein paar Gewittertropfen, die das flaue Gefühl in ihr wegwaschen könnten.
Er würde ihr wehtun. Er tat ihr jedes Mal weh. Jeden ersten Freitag im Monat tat er ihr weh. Und trotzdem stand sie immer wieder hier, an der Grenze, die es bald nicht mehr geben würde. Bald würde sie neue suchen müssen.
Der Schmerz würde sich in sie bohren und sie sich in ihm spüren. Wie sagte William Faulkner? Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz. Lust und Schmerz waren Nachbarn, die war versuchten, sich aus dem Weg zu gehen, aber doch immer wieder aufeinander prallten. Mitten in ihrem Körper. Mitten in ihrer Seele.
Sie mochte ihn nicht. Trotzdem. Er war gut. Sie fuhr freiwillig zu ihm, und doch musste sie sich jedes Mal dazu zwingen. Aber Danach. Danach würde sie sich besser fühlen. Leichter. Schöner. Begehrenswerter. Seine Gesichtszüge waren ernst, beinahe streng. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn jemals lächeln gesehen zu haben. Es war nicht seine Aufgabe, zu lächeln.
Er war Mitte Vierzig, sein Körper athletisch, seine Hände kräftig. Hände, die ihr weh tun würden. Grob waren und eindrangen in sie, bis es blutete.
Aber noch war es nicht so weit. Noch stand sie an der Grenze. Noch könnte sie umkehren. Tat es aber nicht. Die Angst drückte sich ihr in den Bauch, nahm ihr die Luft zum Atmen.
"Was führen Sie ein"? Nichts. Oder doch. Sie führte Verwundbarkeit ein. Angst. Aber auch Mut. Überwindung. Er würde auch etwas einführen. Gegen ihren Willen. Und doch auch wieder nicht.
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