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Julia (fm:Lesbisch, 15525 Wörter)

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Veröffentlicht: Jan 31 2022 Gesehen / Gelesen: 11596 / 7953 [69%] Bewertung Geschichte: 9.66 (108 Stimmen)
Eine Liebesgeschichte.

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Klicken Sie hier für die ersten 75 Zeilen der Geschichte

Auf Beziehungen hatte ich keinen Bock mehr. Meine letzte Freundin hatte mich mitten durchgebrochen. Hatte mir alle Hoffnungen, alle Träume, alle Sehnsüchte, alle Energie und alle Liebe ausgesaugt wie ein Staubsauger. Bis ich nur noch eine trockene, verschrumpelte Mumie war. Und gab mir dann den Gnadenstoß.

Jetzt fickte ich nur noch. So oft und mit wem auch immer ich wollte. Na ja, zuletzt immer seltener. Selbst das war zu viel Aufwand. Selbst das Wollen ließ nach, änderte die Richtung. Ich wollte nur noch ich selbst sein. Ohne mich für irgendjemanden zu verbiegen. Attraktiv zu wirken, begehrenswert. Interessant. Scheiß drauf. Ich bin ich. Leckt mich doch alle. Oder lasst es eben.

Den Kuchen gerade so heruntergewürgt. Der Kaffee war zu heiß, um ihn runterzukippen, sonst hätte ich das auf Ex getan, um mir schnellstmöglich zur Feier des Tages ein Bier zu geben. Jens stürzte gerade wieder zur Tür, um die nächsten Besucher zu begrüßen. Er hatte nicht übertrieben, das würde eine fette Party werden. Dreißig wird man nur einmal.

Na, die beiden Frauen kamen aus meiner Fraktion. Und miteinander. Bei einer zumindest sehr bedauerlich. Hui. Da passte aber einiges zusammen. Ich konnte es nicht hören, aber ich ahnte, dass Jens überflüssigerweise auf mich aufmerksam machte. Das Erkennen war beiderseitig gewesen. Freundliches Grinsen in meine Richtung.

Kannte ich die eine nicht sogar? Aus dem Himmelreich? Sammy zog die beiden zum Kuchenbuffet. Zu spät, um sie noch vor der rosa Verfehlung zu bewahren, von der ich langsam Sodbrennen bekam. Und Jens sprang wieder zur Tür.

Hinter einem kleinen Tisch in der rechten Ecke des Raums nahm jetzt ein schon älter aussehender Typ Platz und klappte ein paar Laptops auf. Sammy hatte mir erzählt, dass sie drei DJs für die Nacht verpflichtet hatten. Einen davon kannte sogar ich, und ich war alles andere als eine Szene-Mieze oder Club-Enthusiastin.

Ich sah noch, wie er sich eine Line auf einer CD-Hülle vorbereitete, dann zum Zimmereingang. Und alle Wahrnehmung zog sich in diesem Moment auf einen Punkt zusammen. Blendete alles andere aus. Hielt alles an. Stoppte den Ablauf der Zeit. Der mit einem hart hämmernden Herzschlag urplötzlich wieder einsetzte.

Uff. Wer war denn... das?

Mein Herz wummerte schneller, als mir klar wurde, dass mir diese Frage binnen Sekunden beantwortet werden würde. Denn diesmal wollte sich Jens nicht mit einem Hinweis begnügen. Schnappte sich die Hand der jungen Frau und steuerte geradewegs auf mich zu.

"Julia, das ist Janine, unsere Haus-Lesbe. Janine, das ist Julia. Und so fangen deinen Schwierigkeiten an."

Wobei nicht klar war, für wen der letzte Satz gedacht war. Dabei hatte er ihn von mir geklaut. Wenn das überhaupt möglich war, strahlte er allerdings noch mehr als zuvor. Und es bimmelte schon wieder an der Tür.

Julia sah mich mit einem undefinierbaren Blick an und nickte nur, als sich Jens entschuldigend in Richtung Tür verzog. Sie lächelte fein.

"Das ist neu. Eine Haus-Lesbe. Seit wann lebst du hier?"

Diese Stimme. Überraschend tief und rauchig. Und so gottverdammt sexy. Verwirrt starrte ich die junge Frau an, die ich ungefähr gleichaltrig mit mir einschätzte, also Anfang, Mitte Dreißig.

"Halbes Jahr", hörte ich mich nach einem Räuspern antworten. Und, um mich aus der Beklemmung zu lösen: "Du kennst die beiden schon länger?"

"Ein Leben lang. Rutsch mal ein bisschen. Oder, warte, ich hol mir erstmal Kuchen."

Langsam löste sich meine Anspannung.

"Wenn ich einen Tipp geben darf, halt dich von dem rosa Teil fern, der ist eklig süß."

"Ich weiß, schließlich habe ich ihn gebacken", gab sie gelassen zurück.

Fuck! Fuck! Fuck!

"Er hatte mal Penis-Form. Ich nehme an, das hast du schon nicht mehr mitbekommen? Das ist dieses Fondant-Zeug, was so schrecklich süß ist. Die beiden stehen da trotzdem drauf, ich muss fast jedes Jahr sowas in der Art entwerfen. Magst du Käsekuchen? Der ist auch von mir, und schmeckt deutlich besser. Gib mal deinen Teller, ich bring dir ein Stück mit."

Mehr als schwach zu nicken brachte ich nicht zustande. Ich reichte ihr meinen Teller, dann auf Nachfrage meine schnell leergetrunkene Tasse, mit der sie sich auf den Weg zum Buffet machte. Jens war mit einigen lederbekleideten Männern in den Raum zurückgekehrt und musterte mich amüsiert. Er schien sich diebisch über meine Überraschung zu freuen. Und die von Julia, denn offenbar hatte er ebenfalls nichts von mir erzählt.

Julia reichte mir meinen Teller und meine Tasse und setzte sich dicht neben mich. So dicht, dass sich unsere Beine berührten. Ich spürte, dass ich zu zittern begann. Warum? Was ging hier ab? Sie wartete nicht ab, bis ich mein Kuchenstück in Angriff nahm, sondern führte ihre Gabel zu meinem Mund.

"Und? Besser?"

"Mmmh. Ja... Der ist richtig lecker."

Nun setzte dröhnende Musik ein. Das laute Gelächter und Stimmengewirr war trotzdem weiterhin das dominante Geräusch. Man redete und lachte einfach etwas lauter. Verzweifelt suchte ich nach irgendeinem schlauen Satz, um von mir aus das Gespräch in Gang zu bringen, da Julia nur genüsslich ihren Kuchen verzehrte. Und mich dabei stumm und irgendwie spöttisch beobachtete.

"Das ist Piet. Der spielt auf jedem von ihren Geburtstagen. Solange er nüchtern ist, sogar richtig gut", informierte mich die dunkelblonde Frau nach einer Weile.

"Nun, er scheint sich momentan mit Schneegestöber in der Nase zu begnügen", wagte ich meine vorherige Beobachtung mitzuteilen, völlig verunsichert. Tappte ich jetzt ins nächste Fettnäpfchen?

"Du wirkst so hibbelig... was hast du dir reingetan?", kam prompt ihre Frage.

"Gar nichts. Ich nehme keine Drogen", antwortete ich fest. Sie zog die Stirn kraus. Scheiße, war das die falsche Antwort? "Ich habe natürlich nichts dagegen... jeder soll machen, was er will. Könnte ich nicht, aus verschiedenen Gründen."

"Oho? Jetzt machst du mich neugierig. Die wären?"

Ja, oute dich als lahme Ente vor dieser Hammerfrau. Mit dem Beruf, der hier so einigen eine Gänsehaut bescheren würde.

"Na... ich bin eine Yogini. Und... dann ist da mein Job."

"Ärztin? Therapeutin?", kam ihre Frage mit einem blitzenden Lächeln. Uff. Also gut. Eben jetzt schon die Stunde der Wahrheit.

"Ich... arbeite fürs BKA."

Ihr Lächeln schien einzufrieren. Oder bildete ich mir das nur ein? Verdammt, verdammt, verdammt. Bitte, bitte, lass das okay sein.

"Cool. Offenbar nicht im Drogendezernat?", meinte sie leichthin, aber durchaus interessiert, nachdem sie aufgekaut hatte.

"Nein, nichts in der Art. Ich arbeite im Dezernat für Internet-Kriminalität. Cybercrime. Reiner Schreibtisch- beziehungsweise Computer-Job."

"Interessant?"

"Ja, total. Macht mir voll Spaß und ich mache gerade richtig Karriere. Die Kollegen sind wirklich gut drauf. Ist sozusagen mein zweiter Anlauf, ursprünglich war ich Journalistin. Brauchte dann irgendwann einen radikalen Schnitt und hatte die Stellenausschreibung in der FAZ gefunden. Habe es nie bereut."

Es wurde langsam schwieriger, die Musik zu übertönen. Piet, oder wie auch immer er hieß, schraubte die Lautstärke stetig weiter rauf. Wie sie mich ansah. Oh Mädel. Wer bist du? Was tust du? Mit mir?

"Und du?"

"Auch keine Drogen. Ich bin Radsportlerin, fahre für ein italienisches Profiteam."

Daher hatte ich sie noch nie bei den beiden erlebt. Sie war bestimmt viel auf Achse. Wow.

"Oh, ich fahr auch gern Rad. Sogar Rennrad."

Blöder Spruch. Oh Mädel, mit dem Rad zur Arbeit zu fahren lässt sich sicher nicht mit ihrer Lebens-Passion vergleichen. Verdammt, warum fühlte ich mich wie ein kleines Mädchen neben ihr? Hatte sie blaue oder graue Augen? Oh. Ein blaues und das andere sah tatsächlich mehr grau aus. Ungewöhnlich. Einzigartig. Verdammt, starr sie nicht so an.

"Sehr schön. Schmeckt dir der Kuchen doch nicht? Du isst ja gar nicht?", bemerkte sie wieder mit diesem leicht spöttischen Gesichtsausdruck.

"Doch... ich bin nur... weiß nicht..."

"Fasziniert?", hauchte sie mir verführerisch entgegen.

Mir sträubten sich die Nackenhaare. Auf meinen Unterarmen formte sich eine Gänsehaut. "Und wie", hörte ich mich ungebremst antworten.

Sie legte den Kopf schräg und lächelte mich an. Sanft und plötzlich gar nicht mehr spöttisch. Setzte zu einer Antwort an, die ich nie zu hören bekam, weil es plötzlich in der Mitte des Raums laut und lustig wurde. Jens wurde auf einen Stuhl verfrachtet. Julia kicherte.

"Das ist deine erste Geburtstagsfeier hier? Dann kennst du das noch nicht... jetzt wird die Geburtstagskerze ausgeblasen."

Nun, das war ja... huch... nicht wörtlich zu nehmen. Sammy hatte die Hose seines Freundes geöffnet und machte sich an der "Kerze" zu schaffen. Angefeuert vom Rest der Geburtstagsgesellschaft. Ja, da waren die schwulen Männer ein wenig anders drauf. Zumindest in meinen Kreisen hätte es so etwas unter Lesben nicht gegeben.

Jens hatte auch von ihren "speziellen" Videoabenden erzählt. Beiden waren Filmfreaks, hatten ein Zimmer wie ein kleines Kino eingerichtet. Mit 4K-Beamer und edler Surround-Anlage. "Normale" Filme hatte ich mit den beiden und Freunden von ihnen schon einige Male geschaut.

Zu ihrem Repertoire zählten aber gleichfalls Porno-Abende, die dann in Gruppensex mündeten. An denen nahm ich natürlich nicht teil. Auch jetzt war ich eher peinlich berührt. Julia schien das Ganze ziemlich lustig zu finden. Nur lustig?

"Bist du eigentlich bi, oder..."

"Nö", meinte sie, ohne mich anzusehen. Mit einem Pokerface, das mich nun völlig verunsicherte.

Und wenn mich mein Gefühl ausnahmsweise trog und sie heterosexuell war? Nein, so grausam war Jens nicht. Der hatte das sauber einfädelt. Nein, so grausam konnte das Schicksal nicht sein. Nein, heterosexuelle Frauen hatten nicht eine solche Ausstrahlung.

"Aber ist doch witzig, oder? Als ob man einen Tierfilm schaut, findest du nicht? Magst du Tierfilme?", erkundigte sich Julia mit einem kurzen Seitenblick.

"Ja. Und auch nur Frauen", gab ich sicherheitshalber zurück, um die letzte Brücke vor einem möglichen Missverständnis einzureißen. Nun, aber... Gab mir einen Ruck. "Das heißt... es gab mal einen Mann. Nur einen, und der war irgendwie einzigartig... eine Art Lesbe mit Schwanz..."

Julia prustete in hohem Bogen ihren Kaffee ins Zimmer und lachte sich schlapp. Ich half ihr, den Kaffee mit einem Taschentuch vom Boden aufzuwischen, als sie sich wieder eingekriegt hatte. Gott sei Dank hatten die beiden ihre kostbaren Teppiche für die Party entfernt. Unsere Hände berührten sich beim Aufwischen.

Das war schon ein mittelschwerer Stromschlag. Was war das bloß? Ich glaubte nicht an diesen "Liebe auf den ersten Blick" Quatsch. Liebe hat nichts mit Momentaufnahmen zu tun. Aber irgendwie funkte und knisterte es ganz gewaltig. Mächtig gewaltig.

Hatte diese Frau eine Energie, ein Feld der Anziehung, das mich völlig einschloss, gefangen nahm. Das hatte ich noch nie erlebt. Der Spruch von Jens fiel mir ein. Und so fingen meine Schwierigkeiten an?

"Also heizt dich das Spektakel ein wenig an?", fragte sie mich nach einer Weile mit einem undefinierbaren Blick.

Jens schien dem Höhepunkt näher. Ich nahm all meinen Mut zusammen. Verdammt, schließlich war ich alles andere als schüchtern. Normalerweise. Ansonsten. In der Regel. Mit Frauen, die mich nicht so vom Stuhl rissen, wie dieses Geschöpf. Zur sabbernden Idiotin degradierten.

"Nicht im Mindesten. Du aber schon."

"Na sowas", gab sie mit ihrem Signatur-Spott-Grinsen zurück. Kein weiteres Feedback. Na klasse, mach du mal einen auf mysteriös. Das weckt die Kriminalistin in mir. Wirst schon sehen, was du davon hast.

Jens erlebte einigermaßen lautstark das Verlöschen seiner Kerze unter großem Beifall der Geburtstagsgesellschaft. Die Geschichte hatte nicht nur Tradition, sondern offenbar eine Signalwirkung. Einige der Männer beschäftigten sich intensiver miteinander und nun fingen darüber hinaus einige zu tanzen an.

Julias Lächeln machte mich nervös, weil ich es nicht einordnen konnte. Aber unbedingt wollte. Wissen wollte, ob ich nur allein diese Begegnung als einzigartig und, das wurde mir in diesem Moment bewusst, bedeutsam einstufte. Ohne genau benennen zu können, warum.

"So nachdenklich?", riss sie mich aus meinen Gedanken.

Ich verschaffte mir eine kurze Antwortpause, indem ich mir schnell den letzten Bissen von ihrem wirklich leckeren Käsekuchen in den Mund stopfte. Geduldig wartete sie, bis ich kein Alibi mehr hatte.

"Irgendwie schon. Du bist viel unterwegs nehme ich an? Weil ich bin nun wirklich oft bei den beiden hier oben, und hab dich noch nie gesehen."

"Ja, absolut. Bis jetzt war ich das. Die Saison ist fast vorbei, ein Rennen noch in Holland und dann war es das. Runterfahren, bisschen Pause, bevor dann im Winter die ersten Trainingslager wieder anfangen. Kommst du mit in die Küche? Ich hatte Fingerfood vorbereitet und wollte noch einen frischen Salat machen, der wäre sonst zu klitschig geworden."

"Ja gerne", kam es wie aus der Pistole geschossen. Es wurde immer lauter und in der Küche konnte ich mich sicher halbwegs ungestört mit ihr unterhalten.

Mir ging durch den Kopf, dass sie mit Kuchenbacken und weiteren Essens-Mitbringsel bei sicher laufenden Vorbereitungen für ihr letztes Rennen viel von ihrer knappen Freizeit für diese Feier geopfert hatte. In der Küche sprach ich sie darauf an.

"Musst du denn nicht trainieren, ich meine..."

"Ja, deshalb bin ich so spät gekommen, ich hatte mein Zeug vorhin hier abgeladen und bin dann die zweite Trainingseinheit für heute gefahren."

"Dann seid ihr wirklich eng befreundet?"

"Na, Sammy ist mein Stiefbruder. Hat er nie von mir erzählt? Sieht ihm ähnlich", kommentierte sie mein Kopfschütteln. "Kannst du mir mal den Balsamico aus dem Küchenschrank holen? Ganz oben rechts."

Ich beeilte mich, ihr das Gewünschte zu besorgen. Sie widmete sich wieder ihrer Vinaigrette.

"Kann ich dir noch irgendwie helfen, was schnippeln vielleicht?", wurde ich gerade noch los, als zwei junge Männer die Küche betraten und sie erst einmal begrüßend in den Arm nahmen. Beide stellten vorher mit Silberfolie abgedeckte Tabletts ab, trugen also ebenfalls zu späteren kulinarischen Genüssen bei.

Irgendwie fühlte ich einen Stich der Eifersucht, dass mir ihre Aufmerksamkeit so plötzlich und unvermittelt entzogen wurde. Aber nicht lange. Sie lenkte einfach alle Aufmerksamkeit auf mich.

"Das sind Toby und Fritze, und diese bildhübsche Frau hier ist Janine, die neue Haus-Lesbe, falls ihr euch noch nicht kennen solltet."

Freundliches Grinsen in meine Richtung, das ich mit glückseligem Strahlen beantwortete. Sie hatte bildhübsch gesagt. Sie fand mich hübsch. Das war nichts Neues, hörte ich keineswegs zum ersten Mal. Warum bedeutete mir das in diesem Augenblick so viel?

"Tomaten. Du kannst Tomaten schneiden, wenn du möchtest", fügte sie als Antwort auf meine frühere Frage hinzu, als die beiden Männer nach dem Abladen ihrer Gaben wieder aus der Küche verschwanden. "Warum grinst du jetzt von einem Ohr zum anderen?"

"Ich gefalle dir", wagte ich ihren Ansatz weiterzuspinnen.

"Selbstbewusst bist du wohl gar nicht", konterte sie. "Im Kühlschrank ist alkoholfreies Bier. Holst du mir eine Flasche?"

"Wie heißt das bei euch, Wasserträger-Dienste?"

Sie lachte leise.

"Genau. Bei mir im Team muss ich die leisten. Ich bin alles andere als der Star der Mannschaft, weißt du? Aber es muss eben auch Frauen wie mich geben. Die sich für andere quälen können, alles für sie und ihren Erfolg tun."

Ich reichte ihr grinsend die Bierflasche und hatte mir ebenfalls eine von gleicher Sorte genommen.

"Ich könnte auch alles für dich tun", gab ich bekannt, da ich langsam wieder Oberwasser bekam und meine unerklärliche Scheu ihr gegenüber langsam ablegte.

"Na sowas. Du ahnst aber nicht, mit wieviel Quälerei das verbunden sein könnte."

"Wenn sich das lohnt, quäle ich mich sogar sehr gerne. Oder dich, wenn du darauf stehst."

"Na, das ist mal ein Statement. Gehst du immer so ran? Du hoffst doch hoffentlich nicht, noch heute in meine Wäsche zu kommen? Nur, um dir da mögliche Frustrationserlebnisse zu ersparen..."

Verdammt.

"Du hast eine Freundin?", fragte ich, gleich um drei Nummern verkleinert.

Sie kicherte leise.

"Nein. Ich bin nur für One-Night-Stands nicht zu haben. Damit wir gleich mit offenen Karten spielen."

"Es muss ja nicht auf eine Nacht beschränkt bleiben", parierte ich gelassen. Plötzlich wurde ich seelenruhig. Plötzlich wurde mir klar, worauf das hinauslaufen würde. Plötzlich drang ein Schimmer einer gemeinsamen Zukunft in mein Bewusstsein.

Mehr als ein Wunsch oder eine Hoffnung. Eine Gewissheit, als wir uns tief in die Augen sahen. Ihr eben noch spöttisches Lächeln verschwand. Eine ungewisse Trauer huschte über ihr schönes Gesicht. Kurz nur, dann lachte sie wieder fröhlich.

"Ja, sicher. Ich bin der Hauptgewinn, weißt du? Die Frau, die niemals da ist. Selbst in den wenigen Monaten, die ich hier in Berlin bin, verbringe ich die meiste Zeit auf dem Rad. Beziehungen sind eines der Opfer, die ich für meinen Sport bringe."

"Weil du niemanden gefunden hast, der dich so nimmt, wie du bist?", setzte ich nach. Sie seufzte theatralisch.

"Kannst du den Heiratsantrag vielleicht noch etwas zurückstellen, und stattdessen die Paprika waschen und schneiden? Steigst du übrigens auf alle Frauen so ein? Ist das deine Masche? Lass mich raten, du bist eher selten allein?"

Sauber abgeschossen.

"Ich? Ich lebe momentan wie eine Nonne", antwortete ich gedehnt. "Allerdings... war das nicht immer so."

"Interessant. Okay. Lass hören. Vor allem die Episode von der Lesbe mit Schwanz interessiert mich. Du machst mich neugierig. Wirklich neugierig. Auch wenn ich nicht genau weiß, warum."

"Oh doch. Das weißt du ganz genau."

Da war sie wieder, die Gewissheit. So, wie sie mich dann ansah, wurde klar, dass nicht nur ich so empfand. Zum ersten Mal strich ich ihr kurz und scheu über ihre Hand. Sie schloss für einen Moment die Augen, knuffte mich dann mit ihrem Ellenbogen in die Seite und wiederholte ihre Aufforderung.

"Also los. Lass hören. Und vergiss das Schneiden nicht."

Wir redeten, nur kurzzeitig durch andere Gäste und die Hausherren unterbrochen, bestimmt drei Stunden in der Küche miteinander. Tanzten dann noch zwei, drei Stunden ausgelassen mit den anderen zum Teil reichlich angeschossenen Partygästen eng miteinander, ohne wirklich Tuchfühlung aufzunehmen.

Aber die Nähe, ihre Nähe hatte etwas, was mich selig machte. Was mich befreite, öffnete, eine Euphorie erzeugte, die keine Droge der Welt generieren könnte.

"Noch ein alkoholfreies?", bot ich erneut meine Wasserträger-Dienste an.

Sie seufzte.

"Nein, eigentlich wollte ich schon vor einer Stunde zu Hause im Bettchen liegen. Ich muss langsam wirklich los."

Wie schwer ihr das fiel, war ihr deutlich anzusehen. Rational verstand ich natürlich, warum sie sich verabschieden musste. Aber Rationalität war in diesen Momenten nicht mein dominanter Zug. Ich drückte sie fest an mich, zum ersten Mal an diesem Abend.

"Nein. Ich lass dich nie mehr los."

Sie ließ es geschehen, erwiderte meine Umarmung eine Weile, bevor sie sich spürbar versteifte.

"Sorry, Janine. Aber ich muss wirklich. Ich habe dich gewarnt. Es kann nur in Quälerei enden."

"Wenn du so schnell ins Bettchen musst, meins ist nur zwei Etagen tiefer. Vorschlag zur Güte."

Sie lachte leise.

"Ja, das könnte dir so passen. Nicht so. Ich kann das nicht. Aber... ich bin noch drei Tage in Berlin, bevor ich nach Drenthe muss. Ich würde dich gerne wiedersehen. Wirklich gerne wiedersehen."

"Das macht dann schon zwei. Ich habe mein Handy gar nicht dabei, verflucht, ich kenne meine neue Nummer nicht auswendig... aber Sammy kann sie dir doch sicher geben. Oder soll ich dich anrufen... oder kommst du einfach vorbei? Du weißt ja, wo ich wohne."

Sie überlegte eine Weile, löste sich dann aus meiner Umarmung.

"Warte einen Moment, ich rede mal kurz mit Sammy und Jens."

Die beiden hatten sich kurz zuvor aus dem Tanzgewühl zurückgezogen und saßen kuschelnd und zufrieden auf ihrem großen Sofa. Beide sichtlich gedopt. Es war mir nicht entgangen, dass sie oft zu uns herübergeschaut und gefeixt hatten. So wurde ihr Grinsen gleich breiter, als sich Julia zu ihnen setzte und rasch mit ihnen redete.

Offenbar wurde nicht nur schnell ein Ergebnis erzielt, sondern zugleich Abschied genommen, denn sie umarmte und küsste beide, wie auch einen danebensitzenden Bekannten. Steuerte triumphierend lächelnd auf mich zu.

"Okay, du hast morgen doch bestimmt frei? Prima, Frühstück um zwei bei den beiden hier? Vorher kommen die auf keinen Fall aus dem Bett und ich hätte dann drei Stunden vor meiner Trainingseinheit am Abend. Passt dir das?"

Und wie mir das passte. Ich würde sie wiedersehen. Es würde weitergehen. Eine Geschichte nahm ihren Anfang. Irgendwie zog sie mich in den Flur, holte sich kurz aus dem Schlafzimmer ihre Jacke und dann standen wir vor der Wohnungstür. Sie hatte es plötzlich eilig.

Ich verstand ohne weitere Erklärungen. Wie schwer es ihr fiel, sich loszureißen, wie gerne sie vielleicht sogar gegen all ihre Prinzipien verstoßen hätte. Der lange Abschiedskuss klärte nämlich so einiges.

Und gab mir weiche Knie, wie ich sie seit meiner Pubertät nicht mehr beim Küssen bekommen hatte. Oh mein Gott. Und alles nur, weil ich den beiden nichts abschlagen konnte.

***

Ich verabschiedete mich eine Stunde später. Lag dann drei Stunden wach in meinem Bett. Und ging kurzentschlossen doch noch einmal zur Party zurück. Trank erst ein Bier, diesmal mit Alkohol, und schließlich noch zwei Tequilas mit Jens, während ich versuchte, ihn und Sammy über Julia auszuquetschen.

"Exercise in futility" nennt man das im englischen Sprachraum. Völlig zwecklos. Die beiden waren ziemlich dun und nicht geneigt, mir auf die Sprünge zu helfen. Offenbar der Ansicht, dass der von ihnen ins Rollen gebrachte Ball nun ohnehin ins Tor flutschen würde.

Ich tanzte eine weitere Stunde, bis ich wirklich erschöpft war. Die Musik war genial, das war jetzt der Profi-DJ, den ich kannte. Die Atmosphäre hatte aber eine eindeutig sexuelle Komponente bekommen. Die dazu führte, dass ich mich nicht mehr wohl fühlte. Auch und gerade, weil das lesbische Pärchen mich antanzte.

Das wäre vor meiner Begegnung mit Julia wahrscheinlich alles andere als unangenehm von mir empfunden worden. Was war mit mir los? War ich tatsächlich verliebt? Nein, so hatte sich das noch nie angefühlt. Irgendwie war alles anders. War mein Empfinden und mein Leben schon jetzt völlig auf den Kopf gestellt.

Immerhin war ich nun wirklich müde, als ich mich in mein Reich zurückzog. Schlief mit dem Bild ihres leicht spöttischen Lächelns vor meinen Augen relativ schnell ein.

Ja, den Versuch am Morgen zu meditieren hätte ich mir sparen können. Auch meine Yoga-Übungen führte ich abwesend und mechanisch durch. Erst zehn Uhr. Noch vier Stunden, dann würde ich sie wiedersehen. Sie hatte mir nicht so viel von ihren Beziehungen erzählt. Mir aber fast meine komplette Lebensgeschichte entlockt.

Sie konnte unheimlich gut zuhören, das konnte ich schon zu diesem Zeitpunkt mit Gewissheit sagen. Irgendwie musste ich mich beschäftigen. Masturbieren half mir meistens abzuschalten. Komischerweise verwarf ich den Gedanken sofort, ohne mir selbst einen Grund zu liefern.

Stattdessen fing ich an, mein Rad zu putzen. In Berlin kann man ein gutes Rad selbst mit tausend fetten Schlössern nicht vor der Tür stehen lassen. Also stand es im langen Flur meiner Wohnung. Irgendwie musste es nun blitzen und blinken. Weil ich mir sicher war, dass sie es bald sehen würde.

Der einzige Mann in meinem Leben war ein Hobby-Radrennfahrer gewesen, das hatte ich ihr erzählt. Dass ich mir ein Rennrad angeschafft hatte, war eine späte Hommage an ihn gewesen. Das hatte ich ihr allerdings nicht erzählt. Auch nicht, wie sehr ich ihn geliebt hatte. Irgendwie immer noch liebte.

Es war alles schon so lange her, wie ein Kapitel aus einem ganz anderen Leben. Während ich die Speichen putzte, wurde mir allerdings bewusst, dass mich ihre Ausstrahlung und meine Reaktion darauf doch irgendwie an ihn erinnerten.

Ich versuchte die aufsteigende Beklemmung abzuschütteln. Nein, sie war anders. Und eine Frau, gottverdammt. Aber eine Frau, die mich mindestens genauso faszinierte und öffnete, wie er es getan hatte. Endlich die Beziehung, die ich mir immer gewünscht hatte? Endlich der "Hauptgewinn", den er mir immer gewünscht hatte? Verrückterweise hatte sie sich am Vorabend ja genau als das bezeichnet.

Verrückt. Das war alles doch total verrückt. So herrlich verrückt. Zum ersten Mal seit langem war ich durcheinander, so wunderbar, wunderbar durcheinander. Gab ich meine Klarheit und Ruhe gerne als Opfergabe auf dem Altar der Liebe. Fuck! Was waren das denn für quere Gedanken? Jetzt musste ich lachen. Okay, wenn ich an der Stelle noch lange weiterrubbelte, war der Lack ab.

Ganz ruhig, Mädel, ganz ruhig. Okay, jetzt waren es nur noch... Fuck! Drei Stunden. Und wenn ich ein paar Runden drehte? Vielleicht begegnete ich ihr zufällig irgendwo auf der Straße? Ja, klar, Berlin war ein 3,5 Millionen Dorf, da traf man sich zwangsläufig. Ich wusste ja nicht mal, in welcher Ecke sie wohnte.

Nein, Radfahren in dem Zustand war ohnehin keine gute Idee. Ich hatte die Tendenz, Verkehrszeichen, Ampeln, sowie andere Verkehrsteilnehmer auszublenden oder zu ignorieren, wenn mich etwas emotional so stark beschäftigte. Das hatte in der Vergangenheit schon zu einigen Unfällen geführt. Also eher nein.

Was lesen? Nein, konnte mich eh nicht konzentrieren. Ah, Backen. Das war die Idee. Ich hatte mir vor kurzem eine Brotbackmaschine geleistet. Ein schönes Vollkornbrot, das würde sie als Sportlerin doch zu würdigen wissen. Nach meinem Spezialrezept. Gesagt, getan. Gelungen. Hoffentlich. Na, sah zumindest ansprechend aus.

Und immer noch eine Stunde. Verdammt, eigentlich hatte ich viel zu wenig geschlafen. Waren vor allem meine Augen noch total müde. Ich sah doch bestimmt richtig Scheiße aus. Nein, jetzt nicht in einen Spiegel schauen. Das fehlte jetzt gerade noch, dass ich Komplexe kriegte. Sie war so wunderschön...

Oh Gott, was wollte ich überhaupt anziehen? Verflucht, es war ein Frühstück mit ihrem Bruder und seinem Boyfriend, kein echtes Date. Verflucht, dreh jetzt nicht durch Mädel. Ganz ruhig. Die... halbe Stunde... kriegst du auch noch irgendwie rum.

Oh Fuck! Ich hatte noch nicht mal geduscht. Jetzt aber... Alte, krieg dich ein. Ab ins Bad und dann hoch. Zu ihr. Jetzt wurde es fast noch knapp, das Brot geschnappt, zur Tür. Und da stand sie. Vor meiner Haustür. Grinste mich unsicher an.

"Na, das ist ja ein Zufall. Guten Morgen, Mittag, Mahlzeit, was auch immer", brabbelte ich überrascht.

"Kein Zufall. Ich stehe schon eine halbe Stunde vor deiner Tür", gab sie mit einem etwas leidendem Gesichtsausdruck bekannt.

Schon lagen wir uns in den Armen und küssten uns. Ich musste mich gegen die Tür lehnen, weil mir die Knie wieder weich wurden. Lösten uns erst nach langen Minuten schwer atmend voneinander.

"Öhm... halbe Stunde? Die Funktionsweise einer Klingel ist dir bekannt? Oder habe ich dich unter der Dusche nicht gehört?"

"Ich habe mich nicht getraut", meinte sie vorsichtig. "Nicht wichtig. Lass uns hochgehen."

"Hast du Angst vor mir?"

"Nein, vor mir. Komm, wir reden ein andermal drüber. Hoffentlich kriegen wir die zwei aus dem Bett."

Was meinte sie damit? Sie wirkte wirklich verunsichert. Glücklich, nach unserem Kuss, also ähnlich wie ich mich fühlte. Aber dennoch verunsichert.

"Hattest du Angst, dass du nicht mehr aus meiner Wohnung kommst, wenn du mich dort aufsuchst?", bohrte ich trotz ihres Widerspruchs weiter.

"So in etwa. Was hast du da in dem Beutel?"

"Brot. Ich hab Brot gebacken", erwiderte ich und auf ihren erstaunten Seitenblick hin: "Beschäftigungstherapie. Ich war kurz vorm Durchdrehen, weil die Zeit nicht verging."

Jetzt schmunzelte sie. Natürlich verstand sie das. Natürlich verstand sie mich. Ohne Grund hatte sie sich schließlich nicht eine halbe Stunde zu früh auf den Weg gemacht. Schon standen wir vor der Wohnungstür von Sammy und Jens. Sie drückte auf den Klingelknopf. Keine Reaktion. Auch auf die nächsten drei Versuche nicht.

"Ich war gestern nochmal oben, weil ich nicht schlafen konnte", informierte ich sie. "Die beiden waren ganz schön hin. Ich bin mir sicher, dass die Party noch lange weiterging."

"Klar", meinte sie mit einem Schulterzucken, klingelte Sturm und hämmerte zusätzlich mit der Faust gegen die Tür. "Verdammt, macht auf."

"Lass sie doch schlafen. Wir können bei mir frühstücken", warf ich ein. "Ich halte mich zurück. Nur frühstücken, reden. Wir können meinetwegen sogar angezogen bleiben."

"Ich habe einen Schlüssel", meinte sie unbeirrt und zog ein Schlüsselbund aus der Tasche. Machte allerdings keine Anstalten, ihn zum Einsatz zu bringen, weil ich ihr ganz sanft meine Hand auf ihren Rücken legte und dann streichelte.

"Hab keine Angst... vor uns", versuchte ich sie weiter zu beruhigen. Sie zitterte richtig. "Komm."

Willenlos ließ sie sich von mir an die Hand nehmen und von der Tür wegziehen. Insgeheim befürchtete ich, dass nun doch noch einer der beiden verspätet aufmachen würde. Das durfte nicht passieren. Ich wollte, musste mit ihr allein sein.

Nichts dergleichen geschah. Unangefochten erreichten wir meine Wohnung. Nun zitterte ich beim Aufschließen. Mein Rad im Flur beachtete sie nicht mal. Umsonst geputzt. C'est la vie. Ich bugsierte sie in meine Küche, in der es noch herrlich nach dem Brot roch.

"Ich setz einen Kaffee auf", orientierte ich sie und mich.

Sie nickte und setzte sich an den Küchentisch. Die Küche war ein schmaler Schlauch, kein Vergleich zu der von Sammy und Jens oben. Insgesamt waren die Wohnungen auf der linken Seite deutlich kleiner. Ich hatte nur eine Zweizimmer-Wohnung, die auf der rechten Seite hatten viereinhalb Zimmer. Ich glaube früher gehörten die komplett zusammen, bevor der Besitzer sie dann so willkürlich abgetrennt hatte. Ursprünglich hochherrschaftlich mit Dienstboteneingang und so.

Sie saß stumm da und beobachte meine nervöse Geschäftigkeit. Schließlich seufzte sie.

"Verstehst du... es geht mir zu schnell. Ich bin dabei, mich Hals über Kopf in dich zu verlieben."

"Und das ist natürlich ganz schrecklich."

"Du weißt genau, was ich meine. Ich habe es dir gesagt. Beziehungen kommen für mich eigentlich nicht in Frage. Abenteuer erst recht nicht."

"Ich hab nur Käse und Brotaufstriche. Auch Marmelade und Nutella, wenn du was Süßes möchtest. Ich bin nebenbei Vegetarierin. Nimmst du Milch und Zucker?", fragte ich, da sie ja schließlich am gestrigen Spätnachmittag den Kaffee und Kuchen für uns geholt hatte.

"Nur Milch. Käse ist prima. Ich esse auch nicht mehr so viel Wurst wie früher, kein Problem."

"Siehst du, wir passen doch wunderbar zusammen. Du machst dir völlig unnötig Sorgen", versuchte ich locker zu bleiben. Vergeblich. Ich fühlte die Spannung genau wie sie.

"Ja, genau davor habe ich Angst, verstehst du das nicht?"

"Nicht genau. Aber wollen wir nicht erst einmal in Ruhe frühstücken? Und nicht gleich so in die Vollen und mögliche oder unmögliche Beziehungen klären? Ich bin neugierig, wie dir mein Brot schmeckt. Meine eigene Kreation."

Sie seufzte und lächelte schließlich.

"Ja, sorry, ich habe die Nacht kaum geschlafen. Bin völlig von der Rolle. Deine Schuld."

"Hättest halt hier übernachten sollen. Dann hättest du irgendwann geschlafen wie ein Baby. Ich habe diesen Effekt auf meine Freundinnen."

Sie knuffte mich in die Seite, während ich ihr Kaffee einschüttete. Na, zumindest da machte sie sich keine Gedanken um mögliche Folgen.

"Hey! Du sollst mich nicht auf dumme Gedanken bringen. Gesittetes Frühstück bitte", wurde ich zusätzlich gescholten.

"Ich? Ich hab doch gesagt, dass ich wie eine Nonne lebe... obwohl, ich hab kürzlich mal von einem Kloster im Mittelalter gelesen, wo sich die Frauen auf ganz spezielle Weise Gott näherten, und sich gegenseitig ständig..."

Schon hatte ich den nächsten Knuff in meiner Seite.

"Also gut. Ich bin ja schon still. Da fällt mir übrigens ein, dass du das gestern warst. Ich habe dir fast meine ganzen Sünden gebeichtet, aber du hast kaum von dir erzählt. Vielleicht fangen wir damit an? Vielleicht verstehe ich dann auch besser, wovor du eigentlich Angst hast?"

Sie seufzte tief und nahm die Brotscheibe entgegen, die ich ihr abgeschnitten hatte. Wunderbar gelungen. Das Brot. Und die Überleitung. Sie fing tatsächlich an, von sich und ihren Beziehungen zu erzählen. Und langsam verstand ich sie.

Der Sport hatte ihr drei richtig ernsthafte Beziehungen kaputt gemacht. Alle drei Frauen hatten ihr versichert, dass sie damit umgehen konnten, sie nur wenig um sich zu haben. Und es dann doch nicht gekonnt. Zwei davon hatte sie richtig geliebt. Dementsprechend zerfetzt hatten sie die Trennungen.

"... und verstehst du, das wird jetzt nicht besser werden, im Gegenteil. Jedes Jahr haben wir mehr Rennen, weil immer mehr Veranstalter Frauenrennen aufnehmen. Im nächsten Jahr startet erstmalig die WorldTour für Frauen. Mehr Rennen, längere Trainingslager, längere und vor allem mehr Transfers. Darauf freue ich mich total, das ist wie ein Traum für mich. Ich bin jetzt einunddreißig. Zwei, drei Jahre habe ich mindestens noch drin. Es gibt Fahrerinnen, die mit vierzig noch in der Weltspitze mitfahren. Verstehst du? Das ist, wer ich bin. Der Sport ist alles für mich. Und auch wenn ein Mensch mir unglaublich viel bedeutet, kann er derzeit nur eine Nebenrolle in meinem Leben spielen. Das kann, das will ich niemanden zumuten. Dir schon gar nicht, nach all dem, was du mir erzählt hast."

Uff. Ja, das war ein Brett. Natürlich hatte sie Recht und allen Grund, sich darüber Sorgen zu machen. Klares Dilemma. Nicht nur ihrs.

"Noch eine Scheibe Brot? Scheint dir ja zu schmecken", zögerte ich meine Antwort heraus, um mich zu sammeln.

Sie nickte und schluckte hart. Sie war den Tränen nahe.

"Ganz ehrlich... ich verstehe genau, was du meinst. Vor ein paar Jahren hätte ich genau wie deine Freundinnen einfach aus dem Gefühl heraus gesagt, natürlich komme ich damit klar. Ohne zu überlegen. Heute... sage ich ehrlich, ich weiß es nicht. Meinst du, ich habe keinen Schiss? Ganz ehrlich, ich hatte Beziehungen für mich bereits abgehakt. Ich bin sechsunddreißig und wäre vor dem gestrigen Abend nicht mal mehr auf die Idee gekommen, dass ich mich verlieben könnte."

Sie nickte und starrte auf ihren Teller, wo sie zwar ein Brot geschmiert, aber offenbar vergessen hatte, was sie damit anfangen wollte.

"Aber das solltest du jetzt kapieren: Für meine Partnerin wäre das nicht anders. Ich liebe meinen Job, gehe voll drin auf. Sitze manchmal um zehn noch vor meinem Schreibtisch, weil ich nicht aufhören kann. Mache Tonnen von Überstunden, die keiner von mir verlangt, von denen nicht mal mein Chef komplett weiß, weil ich über die Hälfte nicht angebe. Ich hab aus dem letzten Jahr zwanzig Tage Urlaub mit Sondergenehmigung mit in dieses rübergeschoben und auch in diesem Jahr noch nicht einen einzigen genommen. Jetzt haben wir Oktober."

Sie sah langsam auf und runzelte die Stirn, erwiderte aber nichts.

"Also für mich ebenfalls eher schlechte Voraussetzungen für eine "normale" Beziehung. Normal bin ich aber nie gewesen, wieso sollten es denn meine Beziehungen sein? Waren bisher nebenbei alles andere als das. Warum sollte nicht eine außergewöhnliche Beziehung mit einer außergewöhnlichen Frau wie dir möglich sein? Voller Schwierigkeiten und viel zu wenig Zeit, die wir zusammen verbringen könnten. Zeit, die wir trotzdem zählen lassen. Zeit, die wir als Geschenk betrachten und nicht danach fragen, ob es größer hätte ausfallen können. Weil ein Geschenk einfach ein Geschenk ist, das wir dankbar annehmen sollten?"

Keine Spur von Vorüberlegung. Das sprudelte alles einfach so aus mir raus. Ich war drauf und dran, zumindest mich selbst zu überzeugen. Und nicht nur mich. In ihre leicht wässrigen Augen trat so etwas wie ein Hoffnungsschimmer. Tatsächlich, ein graues und ein blaues Auge. Abgefahren.

"Ich weiß nicht..."

"Wissen können wir nur, was wir erfahren und erleben, hat mir ein weiser Mann mal gesagt. Der Rest sind Geschichten, die wir und andere uns erzählen."

"Dein Guru?"

"Sowas in der Art. Eine Lesbe mit Schwanz. Auch sonst nicht ganz von dieser Welt. Der aber ganz genau wusste, wovon er redete. Weißt du, was er mir gewünscht hat? Einen Hauptgewinn. Und weißt du was? Das bist du. Hast du selbst gesagt. Also, iss endlich dein gottverdammtes Brot, damit ich dich zum Nachtisch vernaschen kann."

"Das könnte dir so passen", parierte sie umgehend, aber ihr Lächeln war zurück. "Mit ein paar schönen Sprüchen kriegst du mich nicht ins Bett."

"Natürlich nicht. Ich hatte an mein Sofa gedacht."

"Janine, du bist..."

"Unmöglich, ich weiß. Gewöhn dich dran. An mich, an das Unmögliche und unmöglich Erscheinende. Das Unvorhersehbare. Das Unerwartete."

"Wie deine Hand auf meinem Schenkel? So unerwartet kommt das nun eher nicht."

"So ungewollt doch eher auch nicht, oder?"

"Hörst du mal auf, mich erobern zu wollen? Du hattest mir ein gesittetes Frühstück versprochen."

"Ja, ich will dich einfach nur besser kennenlernen. Deine Wünsche. Deine Sehnsüchte. Vor allem die, die du dir nicht einzugestehen traust."

"Ich weiß sehr wohl, was ich will und was ich nicht will."

"Ich auch. Und habe keinerlei Skrupel, es dir zu geben."

"Danke. Also Zeit, mir die ganze Geschichte durch den Kopf gehen zu lassen. Das ist lieb. Das wünsche ich mir wirklich von dir."

Bevor ich etwas erwidern konnte, klingelte es an meiner Tür. Verdammt. Verdammt. Verdammt. Das waren doch sicher Sammy und Jens. Natürlich. Sie waren es. Entschuldigten sich dafür, vorhin nicht aufgemacht zu haben. Gehört hatten sie es wohl, aber keiner von ihnen war willens oder in der Lage gewesen, zeitnah darauf zu reagieren.

Da meine Küche für vier Leute zu klein war, gingen wir dann tatsächlich zu ihnen rauf. Okay, vor weiteren Attacken war sie für den Rest des Nachmittags aus diesem Grunde vor mir sicher. Ihre Hand hielt ich aber während der gesamten Zeit. Und sorgte mit einem ultraheftigen Abschiedskuss dafür, dass sie sich die Sache in der richtigen Art und Weise durch den Kopf gehen ließ.

Bis zu unserer nächsten Verabredung am nächsten Tag, dem Sonntag. Diesmal bei ihr in Friedrichshain und schon um elf. Mehr Zeit mit ihr. Die ich zählen lassen wollte.

***

Scheiße, das war in ihrer Ecke ja noch schlimmer mit den Parkplätzen als bei uns. Ich hätte doch das Rad nehmen sollen. Jetzt parkte ich drei Straßen weiter und hatte den Wagen hinter mir beim Einparken wahrscheinlich angeditscht. Ich entschied mich, das nicht nachzuprüfen. War ohnehin schon mindestens zwei Minuten zu spät dran.

Und hatte noch einige Meter zu laufen. Eine schöne Ecke, in der sie da lebte, kannte ich noch gar nicht. Kein Wunder, Berlin war alles andere als klein. Ich lebte erst seit Ende 2011 dort. Kein Vergleich zu der kleinen niedersächsischen Großstadt, aus der ich kam. Na, Berlin ließ sich ohnehin mit nichts vergleichen.

Mein Herzschlag beschleunigte sich, und das kam nicht von dem Tempo, mit dem ich zu ihr eilte. Sie wohnte im Erdgeschoss, wie sie mir erzählt hatte. Sie stand tatsächlich ungeduldig am Fenster, ich braucht nicht einmal zu klingeln. Sekunden später lagen wir uns in ihrem Türeingang in den Armen und küssten uns wild. Es dauerte einige Zeit, bis es uns gelang, uns voneinander zu lösen und die Wohnungstüre hinter uns zu schließen.

Ihre Wohnung war wunderschön, mit einer Terrasse und auch das angrenzende leicht verwilderte Gartenstück gehörte zu ihrem Reich. Alles nur periphere Wahrnehmungen, denn meine Aufmerksamkeit fokussierte sich sofort ausschließlich auf Julia. Ihren Mund, ihre Umarmung. Das Gefühl ihrer kleinen Brüste in meinen Händen. Das ihrer Hände an meinen Handgelenken.

"Hey! So haben wir nicht gewettet", kam ihr allerdings von einem Lächeln begleiteter Protest. "Frontalangriff bitte einstellen."

"Das war kein Frontalangriff. Nur ein Reflex. Tut mir leid, bei so schönen Brüsten entwickeln meine Hände ein Eigenleben."

"Nun, danke für das Kompliment, aber auch heute gilt, dass ich es vorziehen würde, wenn wir alles schön langsam angehen. Also erstmal ganz in Ruhe frühstücken, reden, uns besser kennenlernen... verstehst du, was ich meine?"

"Natürlich. Und du kriegst gerade bestimmt einen völlig falschen Eindruck von mir. Eigentlich bin ich gar nicht... mehr.... so das Sexmonster, die ihre Finger nicht unter Kontrolle hat und an nichts Anderes als Ficken denkt. Im Gegenteil, ich bin eigentlich total ruhig geworden, durch Yoga und Meditation, statt dreimal täglich masturbiere ich beispielsweise jetzt einmal alle drei Monate... Und das ist jetzt nichts Erzwungenes, dass ich mir das verbiete oder so. Ich denke einfach nicht mehr dran. Gut, seitdem ich dich kenne, denke ich wieder daran. Sehr intensiv sogar. Sehr, sehr intensiv sogar. Aber das ist nicht das Wichtigste für mich, wenn ich an dich denke, weißt du..."

"Ja, ich weiß genau, was du meinst. Setz dich doch erstmal. Brot habe ich nicht gebacken, aber frische Brötchen geholt. Bedien dich. Und sollte ich jetzt viel beruhigter sein, dass du nicht mehr das Sexmonster bist?", fragte sie mit diesem spöttischen Grinsen, dass ich mittlerweile so lieben gelernt hatte.

"Das kommt natürlich drauf an. Manche... oder sagen wir, die meisten meiner Partnerinnen wussten das eher zu schätzen, dass ich nicht aufhören konnte, sie zum Kommen zu bringen. Sie zum Teil tagelang nicht aus dem Bett gelassen habe, außer vielleicht, um eine Pizza an der Tür in Empfang zu nehmen. Aber wie das Leben so spielt. Frau wird halt älter und gelassener."

"Na sowas. Probier mal den Käse da, das ist ein echter Gruyere, stinkt bestialisch, aber schmeckt irre gut. Das ist bei mir nicht anders. Während der Wettkampfzeit denke ich ebenfalls kaum bis gar nicht an Sex."

"Ja, der ist lecker", bestätigte ich kauend und beobachtete sie aufmerksam. "Wie ist das eigentlich, wissen die anderen Fahrerinnen, dass du lesbisch bist?"

Sie nickte und machte sich eine weitere Brötchenhälfte zurecht.

"In meinem Team wissen es alle und auch sonst wohl die meisten, obwohl ich damit nun nicht unbedingt hausieren gegangen bin", meinte sie und hielt ihr Brötchen dann mit einem feinen Grinsen in Mund-Nähe, ohne abzubeißen. "Eine Zeitlang meinten einige, mir erzählen zu müssen, dass sie auch die eine oder andere Bi-Erfahrung gemacht hatten. Das war teilweise völlig absurd, wie das ablief."

"Kann ich mir vorstellen. Na, aber einfach ist das doch bestimmt nicht, mit den ganzen geilen Ärschen im Feld und so."

"Quatsch, einige sind Teammitglieder und die anderen sind Gegner, nicht mehr und nicht weniger. Kolleginnen. Ich denke beim Rennen oder Training doch nicht an Sex."

"Vielleicht solltest du mal mit mir trainieren, dann ändert sich das vielleicht", gab ich zu bedenken. "Aber ernsthaft, hast du dich nicht mal bedient? Ich meine, ohne Grund haben sie dir bestimmt nicht von ihren Vorerfahrungen berichtet, oder?"

Sie seufzte.

"Die Möglichkeit hätte wohl einige Male bestanden, aber du weißt doch mittlerweile, wie ich ticke. Für mich hat Sex mit Gefühl zu tun. Ist dessen Ausdruck. Oder dessen Basis, verstehst du?"

"Ja, glaub schon. Aber wenn es richtig funkt..."

Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum, aber ihr Grinsen wurde immer breiter.

"Wenn es richtig funkt und die Zeit da ist... weiß auch ich sie zu nutzen, das willst du doch wohl hören?"

"Oh ja. Das wollte ich hören. Und ich stell mir das jetzt nicht... durchgängig... vor, keine Angst. Aber du hast jetzt auch kein Keuschheitsgelübde in der Saison, oder so, ich meine... der Typ, mit dem ich zusammen war, hatte mit dem Radfahren aufhören müssen, unter anderem, weil ich ihn so hart rangenommen hatte, aber das ist bei Frauen ja hoffentlich anders..."

"Was?", fragte sie hustend, nachdem sie sich ein wenig verschluckt hatte.

"Lange Geschichte. Mit anderen Worten, es ist deiner Form nicht abträglich, wenn du..."

"Nein, vielleicht nun nicht gerade Marathon-Geschichten vor einem Rennen..."

"Okay. Das wollte ich hören. Warum grinst du so?"

"Du wolltest nicht durchgängig dran denken, vergessen?"

"Oh, kannst du das sehen?"

"Nun, ich glaube nicht, dass mich jemals jemand zuvor so mit den Augen ausgezogen hat...", vermeldete sie mit Augenrollen.

"Quatsch, nackt bist du in meinem Kopf schon die ganze Zeit, mittlerweile laufen da ganz andere Sachen ab, von denen die sich die meisten um Zungen und Finger drehen..."

"Aha. Danke für die Info. Anderes Thema. Yoga. Finde ich nun wieder interessant. Schon länger?"

"Mehr als fünfzehn Jahre. Zweimal täglich, eine Stunde Hatha-Yoga, also körperliche Übungen, fünfzehn Minuten Pranayama, also Atemübungen, zwanzig Minuten Meditation."

"Oh, dann betreibst du das richtig ernsthaft. Ich hatte mal kurz angefangen, als zusätzliche Reha-Maßnahme nach einer Verletzung... ist auch schon wieder fünf Jahre her. Seitdem nicht mehr."

"Ich bin sogar eine zugelassene Yoga-Lehrerin. Wenn du Interesse hast, bringe ich dir gerne was bei. Seit gestern denke ich allerdings daran, dass ich mehr Zeit auf dem Rad verbringen sollte."

"Warum das?", fragte sie schmunzelnd.

"Na, damit ich zumindest auf deinen lockeren Trainingseinheiten mit dir mitfahren kann, wenn du hier in Berlin bist. Und so mehr Zeit mit dir verbringen.

"Ernsthaft, das würdest du tun wollen?"

"Natürlich. Ich will alles für dich tun. Mögliche Quälerei wie erwähnt eingeschlossen."

Sie lächelte vor sich hin und schüttelte leicht den Kopf. Sah mir dann direkt in die Augen.

"Du meinst das ernst, nicht wahr? Du... denkst wirklich ernsthaft über eine Beziehung mit mir nach?"

"Ja. Erschreckt dich das?"

"Ein bisschen."

"Du doch aber auch, oder nicht?"

"Ja. Schon. Obwohl ich das eigentlich nicht will."

"Unsinn, es gibt nichts, was du lieber willst. Na, mal abgesehen von den Sachen, an die auch du krampfhaft versuchst, nicht durchgängig zu denken."

Sie streckte mir die Zunge raus.

"Oh ja, damit..."

"Hey! Reden. Weiterreden. Gut, also ich weiß von dir, dass du eine ungewöhnliche Frau bist, mit einem interessanten Job, der dir viel gibt, aber ebenso viel Zeit erfordert. Du magst Sex und schaffst es irgendwie, jedes Gespräch darauf zu lenken. Du bist diszipliniert, denn zweimal täglich diese Yoga-Routine durchzuziehen erfordert schon einiges an Disziplin. Du bist ein sehr angenehmer und umgänglicher Mensch, sonst würden Sammy und Jens nicht so von dir schwärmen... Du kannst Brot backen, bist natürlich und direkt, siehst verdammt gut aus... und was noch? Was muss, was sollte ich noch von dir wissen?"

"Alles. Schließlich werde ich bis an dein Lebensende deine Partnerin sein. Kein Spruch. Ich weiß es."

Jetzt klappte ihr doch die Kinnlade nach unten. Weil sie sofort erfasste, dass ich das so meinte, wie ich es sagte. Sah mich eine ganze Weile fest an und nickte dann andeutungsweise.

"Ja, ich glaube dir, dass du das denkst. Also gut. Erzähl mir was. Von deiner Familie zum Beispiel. Hast du Geschwister?"

Wir redeten fünf Stunden ununterbrochen. Diesmal ging es hin und her, ein echter Dialog, kein Verhör. Na, zumindest nicht von ihr, ich konnte manchmal nicht aus meiner Haut. Wir lachten sehr viel dabei und ich schaffte es tatsächlich, nicht durchgängig daran zu denken, sie zu vernaschen. Behielt meine Händchen schön bei mir. In manchen Gesprächspausen stellte ich allerdings sicher, dass sie genau wusste, woran ich gerade dachte.

Ich war mir hundertprozentig sicher, dass sie dabei genauso feucht war wie ich. Ebenfalls, dass ich sie trotz all ihrer Bedenken hätte verführen können, wenn ich das gewollt hätte. Aber das wollte ich nicht mehr. Sie wollte und musste sich sicher fühlen, das spürte ich ganz deutlich. Sie wollte mit offenen Augen auf mich zugehen, nicht in etwas hineinstürzen.

Ihr Handy machte ein Geräusch. Sie seufzte.

"So spät schon... Das ist mein Zeichen, dass ich mich langsam zum Training fertigmachen muss."

"Okay. Dein Job. Und was machen wir danach?"

"Janine, bitte..."

"So meine ich das nicht. Wollen wir vielleicht was machen, was weiß ich, ins Kino, oder was essen gehen, oder beides?"

"Ach so."

Sie überlegt kurz.

"Beides zusammen geht zeitlich eher nicht. Aber was essen gehen ist eine gute Idee, dann spare ich mir das Kochen. Damit du auch gleich siehst, wie peinlich das ist, mit mir Essen zu gehen, bei den enormen Mengen, die ich in mich reinschaufeln muss. Kennst du einen guten Italiener? Pasta ist mein Hauptnahrungsmittel."

"Klar. Ich hole dich ab. Um acht? Super. So. Aber fünf Minuten hast du jetzt noch?"

"Ja, sicher, wieso?"

"Gleich. Ich muss erstmal pullern. Wo ist dein Klo?"

Sie beschrieb mir den Weg. Es war höchste Eisenbahn, eigentlich musste ich schon seit einer Stunde, hatte mich aber von ihr und unserem Gespräch nicht losreißen können. Als ich zurückkehrte, räumte sie gerade die Reste unseres Frühstücks verspätet in den Kühlschrank. Ich stellte mich hinter sie und wartete noch, bis sie die Kühlschranktür geschlossen hatte.

Atmete ihr heiß in ihren Nacken. Drehte sie langsam an ihren Schultern in meine Richtung. Küsste sie ganz leicht und neckisch auf ihre weichen Lippen, während ich sie mit meinen Armen umfing und sanft an mich heranzog. Wir verschmolzen miteinander, küssten uns unablässig, drückten und rieben uns aneinander.

Im Limbo zwischen Zärtlichkeit und Leidenschaft. Verschafften uns eine Ahnung davon, wie es sein könnte, nicht mehr. Ein Aufwärmen, kein Aufheizen. Obwohl es bereits ordentlich hitzig wurde. Ein bewusstes körperliches Einstimmen, Gewöhnen, Vertrauen auf körperlicher Ebene aufbauen. Ihre und meine Erregung zu fühlen, darin zu baden, ohne auf Weiteres, ohne auf Entladung zu drängen.

Es war wundervoll, entspannt und gelassen. Und voller Gefühl. Ich hatte ein gutes Zeitgefühl. Nach ziemlich genau fünf Minuten ließ ich von ihr ab.

"So, dann will ich dich nicht weiter vom Training abhalten."

Ihr Blick sprach Bände. Ich hätte in diesem Moment alles mit ihr anstellen können. Das wusste sie und das wusste ich. Ihre Dankbarkeit, dass ich nichts weiter unternahm, dass ich sie und ihre Grenzen voll und vollständig respektierte, öffnete sie in diesem Moment noch weiter für mich. Ließ sie sich in diesem Moment nicht nur auf eine vage Idee einer Beziehung mit mir ein. Befand sich schon mitten darin.

"Du bist unglaublich", versetzte sie noch und lächelte glücklich.

Ja, glücklich. Diesmal ohne doppelten Boden, ohne diese tiefe Traurigkeit, diese unterschwellige Angst, die vorher deutlich spürbar gewesen waren. War sie jetzt völlig frei.

"Warte erstmal, bis du richtig Grund hast, das zu sagen", kündigte ich selbstbewusst an.

*** Dieser Blick. Wir waren gerade vor ihrem Haus angekommen. Es war ein witziges Essen gewesen, wir hatte viel gelacht und uns tief in die Augen geschaut. Weniger von uns und unserem Vorleben erzählt, nur kleine Anekdoten am Rande. Nein, was gestern und vorgestern war, zählte bereits nicht mehr.

Oder nicht mehr so viel. Die Gegenwart wurde wichtiger als Vergangenheit und Zukunft. Der Moment zählte. Nun aber saßen wir vor ihrem Haus in meinem Auto, und ihre Augen stellten die Frage, die ihr Mund nicht auszusprechen wagte. Weil es trotz allem noch zu früh dafür war.

"Fährst du morgen schon nach Holland, oder erst am Dienstag?", fragte ich in die knisternde Stille hinein.

Sie seufzte.

"Morgen Nachmittag. Das heißt, ich sehe dich wahrscheinlich nicht? Du musst doch sicher arbeiten?"

"Eigentlich schon."

Natürlich konnte ich mir kurzfristig freinehmen. Obwohl, der Fall, an dem ich gerade arbeitete... Sie nickte und schien meine Gedankengänge zu erraten.

"Komm nicht auf die Idee, wegen mir Urlaub zu machen, oder so. Ich trainiere noch locker am Morgen, dann muss ich packen und werde am frühen Nachmittag von unserer Polin abgeholt. Die hat einen Transporter. Da würde so gut wie keine Zeit für dich bleiben."

"Wann ist das Rennen?"

"Freitag. Am Samstagnachmittag bin ich dann schon wieder in Berlin. Das halten wir aus." Das wir machte mich glücklich.

"Dir ist schon klar, dass du mich wenigstens zweimal täglich anrufen musst?", erkundigte ich mich.

"Ich glaube, das könnte um einiges leichter werden, wenn du mir deine Nummer gibst", meinte sie grinsend.

Das stimmte natürlich. Wir hatten noch nicht einmal Handynummern ausgetauscht. Irgendwie verlief alles ganz anders als jemals zuvor. Ich zückte mein Handy und tippte ihre diktierte Nummer ein. Fügte sie bei WhatsApp hinzu und schrieb ihr gleich die erste Nachricht. Die Frage, die sie hören wollte.

"Und jetzt?"

Sie atmete tief durch, als sie diese zwei Worte las.

"Gute Frage", meinte sie unsicher. Das gab den Ausschlag.

"Bis Samstag halten wir das aus", erwiderte ich so ruhig, wie es irgend ging.

"Wirklich?", fragte sie in einem Tonfall, der mir wieder die Nackenhaare sträubte. "Tun wir das?"

"Ja. Weil du das so möchtest. Auch wenn du dir jetzt nicht mehr so sicher bist, ob du das wirklich möchtest", stieß ich am Rande meiner Selbstbeherrschung hervor.

Als Antwort schlang sie ihre Arme um mich und küsste mich dankbar.

"Du bist die Beste. Du weißt natürlich..."

"Ja", unterbrach ich sie mühsam. "Ich weiß. Und du kannst nicht mal ahnen, wie heroisch mein Versuch ist, mich vor diesem Wissen zu verschließen, nicht danach zu handeln. Also rühr besser nicht dran."

"Tapfere kleine Janine. Am Samstag werden die Karten neu gemischt, das verspreche ich dir."

"Ich zähle darauf. Und die Tage bis dahin. Vielleicht auch die Blasen an meinen Fingerkuppen."

"Och, du Arme... komm, lass uns die Verabschiedung nicht in die Länge ziehen, sonst komme ich doch noch auf... nicht dumme, aber die falschen Gedanken."

Wir küssten uns noch einmal eher heftig und dann floh sie tatsächlich aus meinem Wagen. Was für ein irres Wochenende. Was für eine irre Frau. Was für ein für mich völlig ungewöhnlicher Beziehungsauftakt. Nun... der Abend war ja noch nicht vorbei. Ich rief sie wenig später von meinem Bettchen aus an.

"Du hast doch wohl hoffentlich noch nicht geschlafen?", begrüßte ich sie.

"Nein, das wird sicher noch eine Weile dauern", gab sie zurück. Das Schmunzeln in ihrer Stimme konnte man deutlich hören.

"Aber du bist schon im Bett?"

"Ja, gerade vom Zähneputzen gekommen. Dein Timing ist perfekt."

"Das höre ich gern. Was trägst du?"

"Du meinst, was ich anhabe? Nun, eine kurze Schlafanzugshose und ein T-Shirt, warum?"

"Warte, ich schick dir ein Bild, von dem, was ich anhabe", gab ich bekannt, knipste kurz und schickte ihr das Bild per WhatsApp.

Ich hörte, wie sie pfeifend ausatmete.

"Das ist nicht viel. Genau gesagt: nichts. Du bist... wunderschön... Wow."

"Was hältst du vom Partnerlook?"

"Du willst, dass ich mich ausziehe?"

"Genau. Über eine visuelle Dokumentation würde ich mich ebenfalls freuen."

"Was genau wird das?", fragte sie mit einem leichten Kichern. Und da ihre Stimme kurz dumpf wurde, anscheinend vorzüglicher Folgsamkeit.

"Das wird geil", kündigte ich an. "Ich bin's schon."

"So, so. Hier kommt das Bild. Mist, nee, warte, verwackelt. Ich habe einen Tatterich. Deine Schuld. So, hier hast du."

Tatsächlich kam auch von ihr eine Frontalansicht, die mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Und nicht nur dort.

"Oh Julia... du hast einen traumhaften Körper..."

"Danke schön. Du atmest ja richtig schwer... rege ich dich so auf?"

"Ja... und mein Finger an meinem Kitzler natürlich... warte, auch davon bekommst du ein Bild."

"Was? Du... oh... machst keine Witze. Janine, du bist eine... sehr ungewöhnliche Frau."

"Wieso? Jede meine bisherigen Partnerinnen sah da unten recht ähnlich aus."

Sie kicherte.

"Das meine ich nicht. Ich meine, mir so ein Bild zu schicken... und mit dir selbst zu spielen, während wir telefonieren."

"Deine Schuld, deine Stimme ist so verdammt sexy... das hat dir doch bestimmt schon eine meiner Vorgängerinnen erzählt, oder nicht?"

"Vielleicht. Ja, glaub schon."

"Und ich kann gar nicht glauben, dass keine deiner Freundinnen vorher auf diese Idee gekommen ist - wo du doch so oft auf Achse bist und so. Warte, ich brauch beide Hände, stell dich auf Lautsprecher."

"Du... willst... wirklich..."

"Was glaubst denn du? Ist dir das zu abgefahren? Macht dich das nicht an?"

"Das habe ich nicht gesagt. Jetzt klingst du recht weit weg."

"Ich finde gerade die bequemste Position. Hörst du mich jetzt besser?"

"Ja. Ich geh auch auf Speaker."

"Gut. Und auch zur Sache?"

"Hm... versuchen werde ich es... wenn dir daran liegt."

"Oh, mir liegt viel daran, dich kommen zu hören."

Sie atmete schwer aus.

"Ich... bin aber nicht so die Stöhnerin, muss ich gestehen", kam es aus dem Lautsprecher. "Macht nichts. Solange ich dich beschäftigt und auf dem Weg weiß..."

"Ist das alles irre. Du bist eine völlig verrückte Frau, weißt du?"

"Bekannt. Und völlig geil. Nass wie SpongeBob nebenbei. Mmmh."

"Hihi. Du bist mir echt eine Marke."

"Wie ist es bei dir?"

"Was meinst du?"

"Trocken, feucht, nass..."

"Ziemlich bis sehr feucht... ich bin... ganz schön aufgeregt."

"Ah... das will ich hören."

"Ob man das hören kann... glaube ich eher nicht."

"Nee, dass du aufgeregt bist. Du musst jetzt auch nicht schrubben, was das Zeug hält, oder so. Wie du's dir sonst eben machst. Ich persönliche lasse mir gerne Zeit... spiele mit meinen Nippeln, massiere meine Titten... sowas halt."

"Ich auch. Ich... ich habe sehr empfindliche Brustwarzen."

"Oh geil. Ich habe eine Freundin mal zum Kommen gebracht, nur indem ich mit ihren Nippeln gespielt habe. Mit meinen könnte man jetzt übrigens Glas schneiden..."

"Dito. Ich bin insgesamt... unglaublich erregt."

"Das Wort geil kommt dir schwer über die Lippen?"

"Ich habe noch nie so eine Unterhaltung geführt, um ganz ehrlich zu sein." Und nach einer Pause. "Aber ja... ich bin... geil."

"Und ich erst. Mmmh. Mit langsam wird glaube ich nichts... wird bei mir nicht lange dauern..."

"Bei mir... auch... nicht... mehr... lange...", hörte ich ihre Stimme leiser und lauter an meinem Ohr. Offenbar konnte sie genau wie ich ihren Kopf nicht stillhalten.

Das beschränkte sich bei mir nicht nur auf den Kopf. Mein ganzer Körper bebte, alle Muskeln spannten sich immer öfter an. Mein Becken hob und senkte sich. Einige Zeit kamen keinerlei verbale Rückmeldungen mehr, weder von ihr noch von mir.

Direkt stöhnen tat sie in der Tat nicht, aber ihr schwerer Atem war deutlich zu hören. Auch, dass sie immer öfter den Atem anhielt und dann herauspresste. Ich war um einiges lautstärker unterwegs.

"Ich komme gleich...", stöhnte ich in Richtung Handymikrophon.

"Ich...", kriegte sie noch raus. Und dann fast zeitgleich mit meinem, das finale Aufstöhnen. Irre. War das alles irre. So schnell ging das bei mir eigentlich nie. Wir rangen beiden nach Atem. Dann Worten.

"Hui, das war... lustig. Und schnell. Schnell lustig. Und für dich?"

"Ich sehe immer noch Sternchen. Lustig... ist in diesem Zusammenhang ein komischer Begriff. Aber enorm schnell, das unterschreib ich. Nun... ist bei mir auch... fast vier Jahre her..."

"Im Ernst? Du hast vier Jahre keinen Sex mehr gehabt?"

"Na, masturbiert natürlich schon... aber nicht zusammen mit einer anderen Frau... das überhaupt noch nicht. Schon gar nicht am Telefon. Warum eigentlich? Dir war doch völlig klar, dass ich schwach geworden wäre, wenn du es versucht hättest..."

"Ja, aber das hättest du eben als Schwäche empfunden, vielleicht sogar als Fehler, als zu schnell. Das war nicht, was du wolltest. Und das jetzt eben... war eine kleine Vorschau. Eine Andeutung der Möglichkeiten. Eine erste Erklärung, warum wir so oft telefonieren werden."

Julia lachte leise.

"Das könnte schwierig werden, in der Regel teile ich mir mit einer Teamgefährtin das Zimmer."

"Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Es gibt Headsets und du bist doch eh ein ganz leises Mäuschen."

"Piep."

"Aber ein geiles Mäuschen."

"Piep, piep, piep."

"Darum liebe ich dich so, weil wir so herrlich albern miteinander sein können", setzte ich nach.

Bis mir klar wurde, was ich da gerade gesagt hatte. Es wurde still am anderen Ende der Leitung.

"Uff. Jetzt habe ich dich mit dem L-Wort verschreckt?"

"Ja. Ich verkrieche mich jetzt sicherheitshalber in mein Loch und zitterte weiter am ganzen Leib. Werde wahrscheinlich wirklich wie ein Baby schlafen."

"Reden wir morgen?"

"Ich ruf dich an, klar. Wenn das für dich kein Problem auf Arbeit ist?"

"Nö, ist okay. Na ja, vielleicht nicht so ein Gespräch wie eben..."

"Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Es gibt Headsets..."

"Na, da ist aber jemand auf den Geschmack gekommen."

"Ja, da ist gerade jemand gekommen. Und du bist eine Frau nach meinem Geschmack. Der ich zum Abschied das L-Wort auch vor die Füße knallen könnte. Ist das alles irre. Janine, was machst du nur mit mir?"

"Dich glücklich?"

"Ja, du machst mich glücklich. Und geil. Und müde."

"Na, dann warte mal Samstag ab."

"Das werde ich mit allergrößter Mühe tun."

"Also gut, dann knall mal."

Sie zögerte doch einen Moment.

"Ich liebe dich."

"Fast zehn Sekunden Zögern. Na, ich weiß nicht."

"Ich wollte sichergehen, dass ich es auch meine."

Boah. Hammer. Diese Frau war der Hammer. Sie meinte das so. Jetzt schon. Kein Spruch. Bei mir aber ebenfalls nicht.

"Ich liebe dich auch", beeilte ich mich zu sagen. "So verrückt das ist. Nach drei Tagen kann das eigentlich noch gar nicht sein, aber es ist so."

"Genau. Das darf alles gar nicht wahr sein."

"Ist es aber. Okay, dann schlaf schön und träum von mir. Und ruf mich morgen an."

"Mach ich. Lieb dich. Schlaf schön."

Und legte auf. Wow. Na, das war doch mal ein Wochenende.

*** Gut, als sie mich am nächsten Tag bei der Arbeit anrief, hielten wir uns zurück. Am Abend dann nicht mehr, sie hatte diesmal tatsächlich mit einer Frau aus ihrem Team getauscht und ein Einzelzimmer bekommen. Keine Ahnung, was und wieviel sie ihr erzählt hatte. Auf jeden Fall schliefen wir beide hinterher wie Babys.

Trotzdem war es kaum auszuhalten, sie nicht zu sehen. Der Fall, an dem ich vornehmlich arbeitete, hielt mich davon ab, ausschließlich an sie zu denken. Beschäftigte mich sogar zuhause, weil ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, irgendetwas übersehen zu haben. Einen Ansatz, mit dem ich den Betrüger überführen konnte. Den Fehler, den er unzweifelhaft gemacht hatte.

Am Dienstagabend, nach einem recht heftigen Orgasmus, wusste ich dann plötzlich, was das war. Am Mittwoch war der Drecksack überführt und wurde von meinen Kollegen in der folgenden Woche dingfest gemacht. Es war der dritte große Fall, den ich innerhalb von wenigen Monaten gelöst hatte.

Nicht alle meine Kollegen waren davon begeistert. Es mochte auf sie so wirken, als ob ich karriere-geil war. Auf Beförderung aus, obwohl zu dieser Zeit da noch nichts am Horizont erschien. Die letzte lag gerade mal vier Monate zurück. Aber das war es nicht. Ich war einfach besessen. Lange, vielleicht zu lange, war das ja mein einziger Lebensinhalt gewesen.

Das war jetzt anders. Kurzentschlossen nahm ich den Donnerstag nach wenigen Stunden frei und am Freitag Urlaub. Würde Julia überraschen. Sie an der Strecke anfeuern, oder im Ziel in Drenthe in den Arm nehmen. Dachte ich. Stellte dann beim Googeln erst einmal fest, dass Drenthe keine Stadt, sondern eine Region war.

Start und Ziel war in der Kleinstadt Hoogeveen, ungefähr 65 km südlich von Groningen. Da war natürlich an Hotelzimmern nichts mehr zu bekommen. Selbst Groningen schien ziemlich ausgebucht, so dass ich am Ende einfach in Meppen etwas buchte, das nur 60 km östlich davon lag.

Am Donnerstagabend erfuhr ich dann, dass Julia und ihr Team tatsächlich auf halben Wege in Emmen abgestiegen waren. Ich sagte ihr natürlich nicht, wie nahe ich war, um die Überraschung nicht zu verderben.

Ich trieb mich am Freitagmorgen im Startbereich herum, in der Hoffnung, sie vielleicht auszumachen, auch wenn sie mich nicht sah oder erkannte. Ja, alles völlig durchdacht. Ich wusste nicht einmal wie ihr Team hieß, geschweige denn ihre Trikots aussahen. Perfekt vorbereitet, meine Überraschung.

Bei vielleicht hundert Fahrerinnen, die sich zudem alle mit Helm und Fahrbrille einrollten, also echt keine Chance, sie da zufällig zu entdecken. Während ich frustriert über meine Gedankenlosigkeit krampfhaft überlegte, wie ich nun vorgehen sollte, hatte ich Glück im Unglück.

Eine Fahrerin hielt bei einem älteren Ehepaar, das direkt neben mir am Straßenrand stand und wechselte ein paar Worte. Das war eine Deutsche, und das Ehepaar ihre Eltern. Die Fahrerin hielt nur wenige Sekunden, also konnte ich sie nicht befragen, aber ihre Eltern erwiesen sich als Wissensfundgrube.

Binnen Minuten hatte ich nicht nur das italienische Team identifiziert, ich meinte sogar Julia zu erkennen. Der Vater der deutschen Fahrerin klärte mich allerdings auf, dass die von mir Erkannte eine Amerikanerin war und deutete auf Julias Startnummer, die er dem Programm entnahm, das er dabeihatte. Er kannte Julia sogar, sie war mit seiner Tochter noch vor wenigen Jahren in einem zweitklassigen deutschen Team gefahren.

Der Start war wenig spektakulär und ich sah Julia wirklich nur ganz kurz, da sie mitten im Feld mit ihrem Team Aufstellung nahm. Horst, der Vater der deutschen Fahrerin, zeigte mir in seinem Programm die Streckenführung und wo es sich lohnen würde, an der Strecke aufzutauchen. Mit dem Auto konnte man über Umwege heranfahren.

Die Strecke war wegen des Kopfsteinpflasters berühmt berüchtigt, soviel hatte mir Julia erzählt. Nicht unbedingt ihr Ding und sie würde froh sein, wenn das Rennen und damit die Saison rum waren. Das war das zweite Radrennen, das ich in meinem Leben besuchte. Mein Freund hatte mir beim ersten damals das Auftauchen an der Strecke ausgeredet. Dabei gab es da Berge.

Hier gab es nur Mini-Steigungen und Kopfsteinpflaster. An der ersten empfohlenen Stelle war das Feld, von drei Ausreißerinnen abgesehen, dicht zusammen und ich sah Julia irgendwo mittendrin ziemlich durchgerüttelt mit Tempo vierzig an mir vorbeibrausen, ohne dass sie auch nur in meine Richtung sah.

Das hätte ich mir sparen können. Und das tat ich danach mit dem zweiten und dritten Tipp, den Horst mir gegeben hatte. Aß stattdessen unweit des Zielbereichs hervorragenden Apfelkuchen mit Schlagsahne und schlug die Zeit tot, bis mit den Damen am Ziel zu rechnen war. Die mir leid taten, denn es war kalt, nieselte erst und dann gab es richtige Schauer.

Unter dem eilig erworbenen Regenschirm durchaus auszuhalten. So einen Luxus hatten die Damen nicht. Die sahen bei der Zielankunft alle eher nach einem Mountainbike-Rennen aus, so dreckgesprenkelt, wie die reinkamen.

Und wieder hatte ich mir alles so romantisch vorgestellt, aber überhaupt nicht geplant, wie ich an sie rankommen sollte. Hinter den Zielbereich kam man nun nämlich nicht so einfach und dort verschwanden die Eingetroffenen rasch. Verflucht. Und jetzt?

Ich war dabei, die Krise zu bekommen, als Horst unvermittelt neben mir auftauchte, zusammen mit seiner Tochter, die auf der Zuschauerseite der Absperrung ihre Rennmaschine schob. Ich nahm allen Mut zusammen und fragte sie, ob sie irgendwie Julia für mich greifen und auf mich aufmerksam machen konnte.

"Ich kann's versuchen, wenn sie nicht schon in ihrem Bus ist. Lauf nicht weg", gab sie zurück und verabredete sich noch weiter mit ihrem Vater, bevor sie sich zu den anderen Fahrerinnen aufmachte. Es traf gerade eine letzte Gruppe ein, die nicht mit dem Hauptfeld hatte mithalten können, darunter auch zwei aus Julias Team.

Sie selbst war aber im Hauptfeld angekommen, diesmal hatte ich mir ihre Nummer gemerkt und erkannt. Tatsächlich rollte Julia kurz darauf in entgegengesetzter, also meiner Richtung noch einmal über die Ziellinie. Sie hatte den Helm und die Brille abgenommen und scannte mit krauser Stirn die Zuschauer, sah mich dabei tatsächlich nicht.

Sie war schon an mir vorbei, als ich ihr laut "Julia, hier!" hinterherbrüllte, um sie auf mich aufmerksam zu machen. Ah, der Gesichtsausdruck war die ganze Aktion wert gewesen. So sah eine vor Glück fassungslose Frau aus.

Ich machte ein paar Schritte nach vorn und umarmte sie über das Absperrgitter hinweg. Während ich noch überlegte, ob es in Ordnung wäre, sie zu küssen, war Julia da schon zu Ergebnissen gekommen. Okay, sie machte kein Geheimnis aus ihrer sexuellen Orientierung. Und freute sich wie eine Schneekönigin über meine unerwartete Anwesenheit. Überraschung gelungen.

"Ich glaube es gar nicht, was machst du denn hier?", stammelte sie mir nach dem langen Kuss ins Ohr.

"Bis Samstag erschien mir zu lang. Ich habe mehr als genug Urlaubstage, und wollte dich gerne überraschen."

"Na, das ist dir voll gelungen. Und, bist du jetzt nur für den Nachmittag hierhergefahren, oder..."

"Nein, ich habe mir ein Hotelzimmer in Meppen besorgt, hier war nichts zu kriegen."

"Meppen? Das ist nicht weit von Emmen, wo wir untergebracht sind. Shit. Ich muss jetzt zum Bus, mittlerweile sind wir alle angekommen, die warten wahrscheinlich schon auf mich. Ich habe mein Handy dort, wir telefonieren, sobald ich im Bus sitze, okay? Janine, du bist echt eine Verrückte. Den ganzen Weg hierher, um mich ein paar Minuten zu sehen?"

"Nun, ich hoffe natürlich auf ein paar Abend- oder Nachtstunden..."

Sie grinste von einem Ohr zum anderen.

"Schauen wir mal. Ich rufe dich gleich an, dann besprechen wir alles Weitere."

Das taten wir dann. Weil es das letzte Rennen des Jahres war, hatte das Team so etwas wie einen Team-Abend im Anschluss an das gemeinsame Abendessen, der aber nach ihren Erfahrungswerten und der Schwere des Rennens mit großer Wahrscheinlichkeit vor zehn Uhr beendet sein würde.

"Okay, und wie wollen wir uns dann treffen?", erkundigte ich mich.

"Wir treffen uns bei mir im Hotel ten Cate, im Foyer um zehn", entschied sie. "Ich texte dir die Adresse."

"Und dann..."

"Dann kriegst du auf meinem Zimmer deine Belohnung für die gelungene Überraschung."

"Oh."

Das klang himmlisch.

"Mehr sagst du dazu nicht?"

"Kannst du nicht hören, wie ich feucht werde?"

Sie kicherte leise.

"Okay, jetzt wo du's sagst. Damit das aber klar ist: Kein Abenteuer. Bist du in meinem Bettchen, bist du meine Frau."

"Wie, es fällt dir jetzt erst auf, dass wir zusammen sind? Ich bin davon ausgegangen, dass wir schon die erste Woche rumhaben."

"Das müssen wir ausdiskutieren. Aber nicht jetzt. Unser Teamarzt will irgendwas von mir. Also dann bis später. Zehn Uhr, Foyer. Adresse kommt sofort."

Dort begrüßte ich sie mit einem Strauß Tulpen, die zu meiner Überraschung ganzjährig erworben werden konnten. Auf dem Weg zum Hotel hatte ich das Gefühl gehabt, dass die Zeit sich verlangsamt. Alles ganz ruhig und still wurde. Selbst meine Gedanken und Gefühle sich wohlig und transparent wie in Zeitlupe räkelten. Alles in einen Mantel aus tiefer Freude hüllten.

Reine Glückseligkeit als Spiegelbild, als ich in ihre Augen schaute. Wir Hand in Hand zur Treppe und in den ersten Stock gingen, wo sie ihr Zimmer hatte. Dort aber beschleunigte sich alles wieder, vor allem mein Herzschlag, meine Gedanken, irgendwie auch mein Empfinden. Das Wissen um die nahe Erfüllung so vieler fast vergessener Sehnsüchte löschte alles andere aus.

Julia schloss die Tür hinter uns, wir umarmten uns und lagen Sekunden später auf ihrem Bett. Ich kann nicht mehr sagen, wer von uns beiden anfing, aber wir brachen in Tränen aus. Schluchzten nun völlig von unseren Gefühlen überwältigt. Spülten die letzten Reste von Angst und Trauer mit diesen Tränen hinaus.

"Hörst du vielleicht mal auf zu heulen?", beschwerte ich mich nach einer Weile. "Ich fange automatisch immer wieder an deshalb."

Okay, an meinen Hüften würde ich mit ihr immer blaue Flecken haben, dieser Knuff in die Seite schien eine ihrer Lieblingsantworten zu sein. Meine war hingegen, ihr meine Zunge in den Mund zu stecken. Schau an, das beruhigte sie doch langsam. Na, beruhigen war vielleicht das falsche Wort. Es brachte sie auf grundsätzlich andere Gedanken.

Uns beide auf ganz andere, so lange und so mühsam unterdrückte Gedanken. Die mit Denken aber nichts mehr zu tun hatten. Hui, wie lange war das her, dass mir jemand meine Klamotten vom Leib gerissen hatte? Zu lange. Wow, so viel Feuer hatte ich von ihr nicht erwartet. Da wollte ich doch nicht nachstehen. Es dauerte weniger als eine Minute und wir waren beide nackt.

Umklammerten uns wie Wahnsinnige. Küssten uns völlig wild und leidenschaftlich. Und Sekunden später wieder ruhig und zärtlich. Das hatte ich allerdings überhaupt noch nicht erlebt. Ein Pulsieren, An- und Abschwellen von Lust und Leidenschaft, in einer Sekunde das Gefühl in sie hineinkriechen zu wollen, in der nächsten nur neben ihr zu liegen und ihre Hand halten zu müssen.

Rieb wie wild an ihrer nassen Spalte, um dann abzulassen und zärtlich ihr Haar zu streicheln. Ihr Verhalten war dabei ähnlich konfus und ziellos. Und noch etwas wurde klar. Wir versuchten fast immer zeitgleich, die Initiative zu übernehmen, stellten dann fest, dass die andere das eben auch tat und wollten einander gewähren lassen.

Plötzlich brachen wir beide in Gelächter aus.

"Verdammt, du bist sonst auch der dominante Teil, nicht wahr?", fasste sie meine eigenen Wahrnehmungen und Ahnungen folgerichtig zusammen.

"Natürlich. Das hätte mir vorher klar sein müssen. Scheiß drauf. Das kriegen wir hin. Wir sollten uns nur klarwerden, wer gerade dran ist. Wir brauchen ein eindeutiges Signal."

Sie zeigte ein Daumenhoch, drückte mich auf den Rücken und küsste sich gen Süden.

"Wie ist das als Signal?", fragte sie mit einem verschmitzten Grinsen, als sie an meinem Bauch angelangt war.

"Nachvollziehbar. Evokativ. Sehr schön. Sehr, sehr schön. Oh Mädel. Genau da habe ich dich nun eine... ganze... Woche... haben... oooh... wollen."

Was war denn das? Ich hatte eine Katze an meiner Muschi. Die mich so wunderbar langsam, gründlich und stetig leckte, als ob sie mich nur säubern wollte. Dabei zunächst immer nur in eine Richtung. Sehr ungewöhnlich. Ungewohnt. Am Anfang zumindest. Aus Geraden wurden Schlangenlinien. Variierte sie den Druck, nutzte mal mehr Fläche, mal mehr Spitze.

Es war so ungewohnt, dass ich nicht mal merkte, wie extrem sie mich damit erregte. Das merkte ich in dem Moment, wo sie mit vertrauten Züngel-Bewegungen anfing. Ich kam wie ein ICE, aus heiterem Himmel. Völlig fassungslos.

Ich war mit bestimmt hundert Frauen im Bett gewesen, aber so etwas hatte noch keine mit mir angestellt. Nicht mal richtig gestöhnt hatte ich, weil ich viel zu konzentriert und andächtig bei der Geschichte gewesen war. Den Überraschungshöhepunkt schrie ich jedoch heraus.

Ein überaus zufriedenes Gesicht tauchte zwischen meinen Beinen auf.

"Du kommst nicht nur am Telefon schnell. Jetzt wissen Shelley und Barbara nebenan auch, dass ich Besuch habe", meinte sie grinsend. "Zugabe?"

"Das könnte dir so passen. Jetzt erfahren deine Zimmernachbarn, dass deine Gäste wissen, was sich gehört. Mit anderen Worten: Revanche."

Nun, vor dieser lag noch ein kurzer Ringkampf, dann schleckte ich an ihrem Honigtopf. Nie zuvor war dieses Wort treffender gewesen. Ihr Sekret war wirklich ungewöhnlich süß und samtig. Mit allerhöchstem Suchtpotential, das wurde mir schon nach wenigen Sekunden klar.

So absurd das auch war, irgendwie fühlte ich mich herausgefordert. Wollte es nicht auf mir sitzen lassen, dass sie mich so schnell ausgeknipst hatte. Brannte ein Feuerwerk ab, das sich gewaschen hatte. Und den gewünschten, ähnlich lautstarken Effekt.

Ich glaube, wir waren beide von der ganzen Situation und unseren Sehnsüchten überstimuliert gewesen. Brauchten deshalb beide die schnelle Erlösung. Um uns dann endlich und richtig miteinander befassen zu können. Nun ruhig, gelassen, zärtlich.

Fingen das Entdecken an. Die Terra Incognita der neuen Partnerin. Öffneten uns dem Gefühl, diesem wunderbaren Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Immer neue Facetten und Details der anderen zu erfahren und erfühlen. Versanken in den immer wieder feucht schimmernden Augen der anderen. Dem fast unerträglich schönen Gefühl des Glücks und der Liebe.

Schien ihr Körper im milden Licht der Nachttischlampe oft wie von einem Schimmer umgeben, oder Weichzeichner, während ich sie zärtlich streichelte, küsste, neckte. Mich schließlich ausgiebig mit ihren wunderschönen kleinen Brüsten beschäftigte. Ihr war anzusehen, dass ich sie damit in den siebten Himmel beförderte. Nun... und in den Schlaf.

Das knüppelharte Rennen forderte dann doch seinen Tribut. Und trotz des zärtlicheren Vorgehens hatte sie kurz vorher noch eine zweite Einschlafhilfe auf ihrer Haben-Seite verbuchen können. Ich kuschelte mich an sie und deckte uns vorsichtig zu. Erst wollte ich über sie hinweg greifen, und das Licht löschen, aber dann konnte ich mich einfach nicht an ihr sattsehen.

An dem bildschönen, im Schlaf völlig entspannten Gesicht der Frau, mit der ich von nun an einschlafen und aufwachen würde. Mit der ich mein Leben teilen würde. Meine Träume, meinen Kummer und mein Glück. Das sonst zusammengesteckte Haar, das nun wie ein feuriger Halbkreis auf dem Kopfkissen ausgebreitet war.

Ihre Lippen leicht geöffnet, selbst im Schlaf hatte sie noch einen spöttischen Zug. Und einen Ansatz zum Schnarchen, bis sie dann ihren Kopf in meine Richtung drehte. Ich blieb noch lange wach. Wollte in diesem perfekten Moment eingefroren bleiben, bis in alle Ewigkeit.

*** Fast zwei Monate lang hatten wir doch recht viel Zeit für uns, bevor die Trainingslager in Italien anstanden. Statt Yoga fuhr ich tatsächlich wie besessen Rad, damit ich bei manchen ihrer Trainingsausritten dabei sein konnte, ohne sie zu bremsen. Selbst in ihrer Abwesenheit quälte ich mich auf der von ihr geerbten Rolle, als es in Deutschland zu schlechtes Wetter für Trainingsfahrten gab. Schnee und Eis.

Es gelang mir immer wieder, sie zu überraschen. Auch in ihrem Trainingslager und bei weiteren Rennen schlug ich kurzentschlossen für ein paar Tage auf. Es funktionierte, gerade im ersten Jahr sogar ganz hervorragend. Klar, vermissten wir uns in der Zeit, wo wir uns nicht sahen. Stellten aber sicher, dass die Zeit, die wir miteinander verbringen konnten, umso mehr zählte.

Julia erlebte in ihrem Sport darüber hinaus so etwas wie ihren zweiten Frühling. Fuhr einige sehr gute Platzierungen heraus, und bei einer Rundfahrt sogar einen völlig unerwarteten Tagessieg. Das brachte ihr neben der überfälligen Anerkennung auch das Interesse eines höher einzustufenden belgischen Teams ein.

Sie wechselte am Ende der Saison. Fühlte sich deutlich wohler dort und hatte mehr Freiheiten, mal für sich selbst zu fahren. Trotzdem kündigte sie an, dass die zweite Saison dort ihre letzte sein sollte.

"Ich verstehe nicht, warum? Du fährst so gut und erfolgreich wie nie zuvor, du fühlst dich wohl, warum jetzt?", gab ich meiner Überraschung Ausdruck, als sie mir das eröffnete.

"Nun, es fällt mir doch langsam alles schwerer. Ich regeneriere nicht mehr so schnell. Ich fahre fast ständig am Anschlag. Und... wie soll ich das erklären... die Bereitschaft, die... ja Lust, mich zu quälen, lässt immer mehr nach. Ich freue mich auf das Leben danach... mit dir."

Ich streichelte zärtlich ihr Haar, das sie sich gerade wieder wachsen ließ, nachdem sie eine in meinen Augen unglückliche Kurzhaarfrisur-Periode hinter sich gebracht hatte.

"Darauf freue ich mich auch. Ich möchte aber nicht, dass du wegen mir aufhörst", gab ich zu bedenken.

"Es ist wie gesagt nur einer der Gründe, dass wir mehr Zeit für uns haben. Ich habe endlich auch wieder kleine und große Träume. Mal vier oder sechs Wochen ohne Fahrrad in den Urlaub? Wie klingt das für dich? Oder endlich zusammenziehen?"

"Ja, aber das könnten wir doch auch so?"

"Ich denke ein Stück weiter. Was hältst du von einer Eigentumswohnung?"

"Oh."

Meine Gedanken rasten. Natürlich machten mich ihre Worte glücklich. Zeigten sie doch, dass sie nicht nur an eine nahe, sondern gleichfalls eine fernere gemeinsame Zukunft dachte. Finanziell war uns das sicher möglich, obwohl die Preise in Berlin nicht gerade niedrig waren.

Wir verdienten beide sehr gut, mein Job war außerdem nicht meine einzige Einkommensquelle und hatten beide die Tendenz, nichts davon auszugeben. Wir brauchten wahrscheinlich nicht einmal einen Kredit.

"Nun?"

"Großartige Idee. Eine Zwei- oder Dreizimmerwohnung sollte erschwinglich sein."

"Na, vielleicht könnten wir ein paar Zimmer mehr gebrauchen."

Verständnislos starrte ich sie an.

"Darüber haben wir nie geredet. Wie denkst du über Kinder?", setzte sie zu meiner Verblüffung nach.

Uff. Gar nicht, wäre die ehrliche Antwort gewesen. Als ich mit dem Mann zusammen war, hatte ich mich sogar sterilisieren lassen wollen. Aber das war lange her.

"Du möchtest Kinder? Wie... adoptieren? Künstliche Befruchtung?"

"Darüber könnten wir uns Gedanken machen, wenn wir das notwendige Umfeld haben. Und das überhaupt beide wollen. Könntest du dir das vorstellen?"

In diesem Moment nicht. Meine Gedanken waren ohnehin nur noch ein wirrer Wust. Zu viele Perspektiven, mit denen sie mich da konfrontiert hatte, die ich nicht einmal am Horizont schimmern gesehen hatte. Das war mir offenbar anzusehen.

"Entschuldige, das ist alles ein bisschen viel im Moment, oder? Mach dir in Ruhe darüber Gedanken. Und vor allem keinen Stress. Davon hängt nicht ab, ob ich mit dir zusammenbleiben möchte, oder nicht. Es wäre eine mögliche Zukunft, verstehst du? Aber solange du in einer Zukunft bei mir bist, ist mir jede davon recht. Ich liebe dich."

"Ich liebe dich", gab ich zurück und küsste sie zärtlich.

Schon am nächsten Tag musste sie zur Vorbereitungsphase des Giro nach Italien. So hatte ich Zeit und Muße, mich mit ihren Vorschlägen auseinanderzusetzen. Einer gemeinsamen Eigentumswohnung hatte ich ja bereits zugestimmt.

Trotzdem vertiefte ich dort mein Wissen, schaute mir etliche Angebote an, Preisdifferenzen in den verschiedenen Stadtteilen, kalkulierte mit meinen, und was ich in etwa von ihren finanziellen Möglichkeiten wusste, mögliche Käufe durch.

Blieb bei meiner Einschätzung, dass auch eine größere Wohnung ohne Kreditaufnahme finanzierbar war. Ja, aber war eine größere Wohnung notwendig? Ein Kind, oder vielleicht sogar mehrere? Damals hatte ich mich einfach als nicht elternfähig eingeschätzt. War kaum mit mir selbst zurechtgekommen.

Das war jetzt anders. Ich scheute keine Verantwortung mehr und hatte mein Leben voll im Griff. Emotional wollte ich Julia jeden Wunsch erfüllen. Wenn das ihr Wunsch war... aber es war mehr als das. Ich konnte es mir vorstellen. Eine Tochter vielleicht, einen Sohn irgendwie weniger, obwohl das ja objektiv Quatsch war. Einfach eine gefühlsmäßige Disposition.

Einfach war das sicher nicht. Aber mit Julia zusammen? Warum sollten wir denn nicht ebenfalls als Eltern gut harmonieren? Wie wir das auf fast allen Ebenen taten. Das war uns allerdings nicht in den Schoß gefallen. Sondern das Ergebnis harter Arbeit, endloser, manchmal tränenreicher Diskussionen, nachdem die figurativen Flitterwochen beendet waren.

Wir waren beide kompromissbereit, harmoniesüchtig waren wir nicht. Klein beigeben hatte charakterlich keine von uns beiden drauf. Runterschlucken erst recht nicht. Eigentlich gute Voraussetzungen. Wir trugen alles aus. Kamen aus allen Auseinandersetzungen gestärkt heraus.

Eine Familie. Die ich selbst kaum erlebt hatte. Mein Vater hatte sich abgesetzt, als ich neun Jahre alt war. Meine Mutter gegen ein jüngeres Modell eingetauscht, wie es so schön hieß. Sich völlig aus unserem Leben verpisst. Kein Kontakt, keine Adresse, keine Unterstützung. Echt das Arschloch.

Am liebsten wäre meine Mutter damals nach England zurückgegangen. Ich überzeugte sie nach langen Kämpfen, mit mir in Deutschland zu bleiben. Ich wollte nicht in das Land, das ich nur von Kurzbesuchen bei meinen Großeltern und den Ferien kannte. Kaum war ich von zuhause ausgezogen, verzog sie sich dann doch. Das war aber okay. Ich brauchte sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.

Besuchte sie ab und zu in Manchester. Na, die würde sich freuen. Sie unterstützte meine lesbische Lebensausrichtung aus vollem Herzen, war selbst bi. Aber das Bewusstsein, dass sie daher wohl nie ein Enkelkind haben würde, machte sie schon traurig. Das hatte sie mir ehrlicherweise ein-, zweimal gesteckt.

Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr freundete ich mich mit der Idee an. Weitergeben, was ich mühsam und mit etlichen Rückschlägen für mich herausgefunden hatte. Was zählte, und was man getrost ignorieren konnte. Was schadete und was einer Entwicklung förderlich war. Vor allem aber, dass manche Fehler gemacht werden müssen. Nur daraus zu lernen war.

Ja, ich war zu allem bereit. Schaute gezielter nach größeren Wohnungen. Und machte schon einmal vorsorglich Platz in meinem Herzen für Zuwachs. Weichte es für Erweiterungen auf. Sah mir Kinder auf dem nahegelegenen Spielplatz an. Träumte von unserer Tochter. Immer mehr.

***

Julia war überglücklich, als ich ihr die vorläufigen Ergebnisse meiner Überlegungen bei meinem Besuch der zweiten Giro-Woche mitteilte. Ich hatte ja, um Preise einschätzen zu können, im Internet nach Wohnungen recherchiert. Eine davon musste ich ihr unbedingt zeigen. Gerade mal zwei Straßen von ihrer augenblicklichen Wohnung entfernt.

Ein absolutes Hammer-Teil, Dachgeschoss, durch große Oberlichter total lichtdurchflutet, hätte wahrscheinlich als ein Atelier für eine Malerin herhalten können. Vier Zimmer, hundertvierzig Quadratmeter. Der Preis war... nun, sagen wir angemessen. An der oberen Grenze dessen, was wir uns leisten konnten. Und sie sprach aus, was ich ebenfalls beim ersten Anblick gefühlt hatte.

"Wow. Die ist es. Verdammt. Das ist unsere Wohnung."

"Genau das habe ich auch gedacht."

"Aber die ist doch bestimmt schon weg, siehst du nicht, wann die eingestellt wurde?"

"Nein, noch nicht. Ich habe mit der Maklerin gesprochen. Ein Paar hatte sie nehmen wollen, aber nach Zusage dann das Geld doch nicht zusammenbekommen. Ein richtiges Drama. Die anderen potentiellen Käufer hatten sich nach der Absage bereits anderweitig versorgt, so dass sie jetzt erst wieder Wohnungsführungs-Termine machen wollte."

"Und wann?"

"Eigentlich wollte sie schon morgen damit anfangen, aber ich habe ihr die Situation erklärt und wann du frühestens wieder in Berlin sein könntest, also hat sie den ersten Termin für uns günstig verschoben."

"Einfach so? Für uns? Das ist kaum zu glauben."

"Sie ist eine Lesbe. Ich kannte sie aus dem Himmelreich. Ich... dreh jetzt bitte nicht durch... hatte auch schon mal mit ihr geschlafen. Na ja, nicht nur einmal. Das war noch während der ersten Monate nach meinem Umzug nach Berlin. Ich hab sie kaum wiedererkannt. Sie mich schon. Und will natürlich, dass wir das Ding bekommen."

"So natürlich ist das nicht. Warum sollte ich durchdrehen? Oder hast du... etwas tun müssen, um den Aufschub zu bekommen?"

"Spinnst du? Nein, Quatsch. Nee, weil es eine Verflossene ist und so."

"Dann bin ich beruhigt. Mich interessiert nicht, wer dich früher versorgt hat. Nur wer es jetzt tut. Hm... Wo wir gerade beim Thema sind...", kam dieser Tonfall, der mir durch und durch ging.

"Öhm... Julia, du hast morgen eine Bergetappe."

"Du aber nicht und Zungenmuskelkater vervollständigt nur meinen allgemein desolaten Zustand. Also Madame, runter mit den Höschen, damit ich mich angemessen für deinen Fund und Einsatz bedanken kann."

"Das liebe ich so an dir. Dass man dich mit so kleinen Sachen glücklich machen kann. Und deine... ohh... heftige... uff... Dankbarkeit..."

Ihre Dankbarkeit war exzessiv, die Nacht definitiv kürzer als ihrer Bestform zuträglich und kostete sie dann doch noch einige Körner. Weil ich Schlimme meine Finger nicht von ihr lassen konnte. Da sie nicht gerade als Gämse verschrien war, fiel das niemandem auf. Sie hatte vorher auf den Flachetappen geglänzt und ihr Soll bereits übererfüllt.

Acht Tage später standen wir erstmalig in unserer Wohnung. Strahlten erst uns und dann Beate, ihres Zeichens Maklerin und früheres Betthäschen, an. Sie hatte sich irrerweise total aufgedonnert und machte einen auf gelangweilte, kaugummikauende Femme fatale. Zog sie das für mich ab?

"Wir nehmen sie natürlich", eröffnete ihr Julia.

"Du bist ein Glückspilz", meinte Beate. "Supergeile Wohnung, und noch geilere Frau. Ich gönn sie dir. Euch die Wohnung. Bin überhaupt nicht eifersüchtig."

Komische Frau. Dunkel erinnerte ich mich, dass sie damals schon irgendwie schräg drauf gewesen war. Auch Julia runzelte kurz die Stirn, war dann aber bemüht, die Sache unter Dach und Fach zu bringen, da noch weitere Anwesende kaufwillig schienen und mit ihr reden wollten. Deren Glück hielt sich in Grenzen.

"Ja... ich könnte jetzt eure Details aufnehmen. Aber... ganz ehrlich, da haben gerade zwei schon den Zuschlag erhalten. Tut mir echt leid", wimmelte sie das nächste Pärchen ab. "Aber wir haben noch andere fantastische Angebote. Gar nicht weit von hier. Vielleicht etwas kleiner... aber wenn ihr nicht schon was angesetzt habt..."

Zwei Tage später hatten wir tatsächlich den Kaufvertrag unterschrieben und das Geld auf den Weg gebracht. Julia musste wieder zu ihrem Team und so blieb ich mit meinem überschäumenden Glück allein, beziehungsweise konnte es nur mit Sammy und Jens teilen, die ebenfalls von der Wohnung begeistert waren.

Und gleich mit Plänen für eine Einweihungsparty aufwarteten. Da verwies ich auf Julias Rückkehr. Im Gegensatz zu mir konnte sie den beiden durchaus Dinge abschlagen. Nun konnte ich tatsächlich weder ihren nächsten Besuch in Berlin, noch das Ende der Saison abwarten. Mit ihr die Wohnung einzurichten, umzuziehen, unser Leben richtig zu beginnen.

Mit meinem Hauptgewinn. Nein, da hatte Beate falsch gelegen. Der Glückspilz war ich. Hatte die wunderbarste Frau der Welt. Bald ganz für mich. Sie sprach von ihren Plänen nach dem Radsport. Wollte in ihrem alten Beruf als Laborantin arbeiten, würde wahrscheinlich sogar problemlos einen Job in ihrem Ausbildungsbetrieb bekommen, da er ihrem Onkel gehörte.

Wollte für unser Kind, für eine Möglichkeit der Adoption, genau das stabile Umfeld schaffen, was vermutlich Voraussetzung war. So einfach war es für ein gleichgeschlechtliches Paar in Deutschland nämlich immer noch nicht. Da hatten wir aus unserem Bekanntenkreis einige böse Geschichten zu hören bekommen.

Wenn wir jetzt an den Abenden miteinander telefonierten, ging es nicht mehr um Sex. Nur noch um die gemeinsame, zum Greifen nahe Zukunft. Weitere Schlaglichter. Weitere Höhepunkte. Die Tour de France, wo ich komplett dabei war, ihr wie ein liebender Schatten folgte. Wo sie wirklich noch einmal glänzte, noch einmal alles heraushaute. Zwei Etappen gewann.

Danach eine Woche Erholung für sie in Berlin. Lockere Runden mit befreundeten Fahrerinnen aus Berlin, von denen keine in den großen Profi-Teams fuhr. Ich hatte zu viel bei der Arbeit zu tun, sonst wäre ich wahrscheinlich mitgefahren. Ahnte nicht, wie sehr ich das bedauern würde.

Ein Mittwoch. Es war halb sechs. Mein Handy klingelte auf der Arbeit. Eine unbekannte Nummer. Eine tränenerstickte Frauenstimme am anderen Ende. Die etwas sagte, was ich nicht begreifen konnte. Unfall. Verunglückt. Auf dem Weg ins Krankenhaus. Schwer verletzt. Sehr schwer verletzt. Nein. Nein. Nein.

Ich schaffte es noch Sammy anzurufen und mir ein Taxi zu bestellen. Alles war ganz weit weg. Wie ein Film, der vor mir ablief. Surreal. Ohne Bezug zur bekannten Wirklichkeit. Kam in die Notaufnahme und fragte nach Julia. Ein trauriger Blick der Schwester und dann nahm mich ein Arzt zur Seite.

"... Schwere der Verletzungen. Alle Wiederbelebungsversuche..."

Fetzen, die an mein Ohr, aber nicht wirklich in mein Bewusstsein drangen. Endete in diesem Moment alles so, wie es begonnen hatte. Mit einem momentanen Einfrieren der Zeit. Der Reduktion auf einen Punkt. Absolutem Stillstand. Dann nur noch dem Pochen meines Herzens.

Nein. Das ging nicht. Nein. Das durfte nicht sein. Das konnte nicht sein, was ich gehört hatte. Sie war tot. Noch auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Meine Julia. Mein Hauptgewinn. Tot. Für immer von mir gegangen. Setzte mich mechanisch auf einen Stuhl.

Leer. Nur schrecklich leer. Selbst wie tot. Unfähig zu denken. Unfähig zu fühlen. Erst als Sammy kam, sich neben mich setzte und zu weinen anfing, brachen auch bei mir alle Dämme. Weinte, klagte, schrie ich mein Leid hinaus in die Welt. Brach zusammen. Völlig zusammen.

***

Alles wurde bedeutungslos. Der Hergang unbegreiflich. Der Autofahrer war weder betrunken noch abgelenkt gewesen. Hatte die acht Fahrerinnen an der Kreuzung herannahen sehen und falsch reagiert. Ihre Geschwindigkeit unterschätzt. Nicht gebremst. War mitten in den Pulk hineingebrettert, als er ihnen die Vorfahrt nahm.

Hatte neben Julia eine weitere Fahrerin schwer und zwei andere leicht verletzt. Julia und mich um ihr und unser Leben gebracht. Das der zweiten Fahrerin zerstört. Sie war nach dem Unfall querschnittsgelähmt.

Es hatte nicht viel gefehlt, und es hätte eine weitere Tote gegeben. Ich hatte noch nie zuvor, nicht einmal in dunkelsten Tagen, die ich zuvor erleben musste, ernsthaft an Selbstmord gedacht. Wochen nach dem Unfall, nach der Beerdigung, als ich in meiner riesengroßen Traumwohnung, die unsere hatte werden sollen, alleine und verloren dasaß, dachte ich daran. Immer wieder. Nur noch daran.

Überlegte mir, wie es tun sollte. Dann aber griff jemand ein. Es war eine meiner Kolleginnen, die mitbekommen hatte, wie schlecht es mir wirklich ging. Obwohl ich mir alle Mühe gegeben hatte, es nicht zu zeigen, Theater zu spielen. Mich an die Hand nahm und in psychologische Betreuung brachte, bevor ich wirklich meine Pläne in die Tat umsetzte. Mich damit ins Leben zurückführte.

Von der Idee weg, dass ich hätte bei ihr sein müssen, mit in dem Pulk. Mit ihr hätte sterben sollen. Zurück zu der Einsicht, die ich ihr einmal zu vermitteln versucht hatte. Dass unsere Zeit zusammen ein Geschenk gewesen war. Für das ich dankbar war. Aufhörte, mich der Trauer zu ergeben, dass es nicht größer ausgefallen war. Begann ich, ins Leben zurückzufinden.

In ein anderes Leben. Fast wieder wie zuvor, bevor ich Julia kennengelernt hatte. Nur Arbeit, immer mehr Arbeit. Sonst nichts. Lange, lange nichts. Sammy und Jens, die mich regelmäßig besuchten, immer wieder versuchten, mich auch auf Partys und in Clubs zu lotsen. Vergeblich. Nun konnte ich selbst ihnen Dinge abschlagen.

Wenn ich an Julia dachte, dachte ich nun immer seltener an diesen unbegreiflich grausamen Moment, der alles zerstörte. Dachte stattdessen an unser erstes Wochenende. Nächte in Hotelzimmern in ganz Europa. Lange Gespräche. Zärtliche Momente. Gespräche, bei denen wir uns vor Lachen die Bäuche hielten.

Fahrtwind im Gesicht und der Blick auf ihr leckeres Hinterteil. Brennende Beine, wenn ich verzweifelt versuchte, an ihr dranzubleiben. Ihr wunderbarer, perfekter Körper. Ihr wunderschönes Gesicht. Ein graues und ein blaues Auge, die nicht nur manchmal geweint, sondern viel öfter gelacht hatten. Und dieses Lächeln, dieses immer spöttische Lächeln, das ich so lieben gelernt hatte.

Eines glaubte ich ganz genau zu wissen. Dass ich mich nie wieder in einen Menschen so verlieben konnte. Das stimmt auch. Das brauchte ich gar nicht. Weil eine andere, unabgeschlossene Geschichte eine unerwartete Fortsetzung nahm. Aber das und die gehört nicht hierher.

Hierher gehört nur meine Liebe zu Julia. Die mich weiterhin unauslöschlich begleitet.



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