Kleine Frau ganz groß (fm:Romantisch, 4709 Wörter)

Die Stammkneipe, eine gemütliche, etwas schummrig beleuchtete Bar mit hölzernen Tischen und dunkelgrünen Sitzbänken, ist das allwöchentliche Refugium für sechs Freunde. Heute Abend ist es besonders voll. Ein reges Stimmengewirr und das Klirren von Gläsern füllen die Luft. Die Runde sitzt beisammen, jeder mit einem Getränk in der Hand und wie üblich geht das Gespräch munter hin und her.

"Also, dann erzähl doch mal, wie es bei dir läuft, Ronja! Was macht die Hochzeitsplanung?", ruft Thomas mit einem grinsenden Blick zu Ronja hinüber, die lachend abwinkt. Sie lehnt sich an ihren Verlobten Stefan und beginnt von dem Chaos in der Vorbereitung zu erzählen. Die anderen hören aufmerksam zu, lachen und nicken zustimmend. Nur Dolores und Harry halten sich etwas im Hintergrund.

Dolores, die neben Harry auf einem gepolsterten Hocker sitzt, beobachtet still die Gruppe, während sie ihre Finger um das Glas Bier schließt. Mit ihren 141 Zentimetern reicht ihr Kinn gerade etwas über die Tischkante, wenn sie auf einem normalen Stuhl sitzen würde. Sie hat sich daran angewöhnt, immer auf einem hohen Hocker zu sitzen, um sich ein bisschen auf Augenhöhe mit den anderen zu fühlen. An solche Kleinigkeiten musste sie sich ihr ganzes Leben lang anpassen - im Alltag wie hier, wo ihre Freunde sie zwar schätzen, aber auch manchmal vergessen, dass sie nicht nur "klein", sondern auch eine gestandene Frau ist.

"Dolores, wie läuft's bei dir im Callcenter? Ist dein Chef noch so ein Choleriker?", fragt Ronja plötzlich und lenkt das Gespräch auf sie.

Dolores zieht eine Grimasse. "Ach, Choleriker ist noch zu nett gesagt. Den habe ich in eine völlig neue Liga des Wahnsinns eingeordnet. Gestern hat er fast einen Kunden angeschrien, weil der nicht gleich verstanden hat, wie das mit den Internetpaketen funktioniert."

"Autsch. Und das nennt sich dann Kundenservice?" Stefan grinst.

"Naja, ich bin da ja eher für den Notfallservice zuständig. Aber wenn ich nicht den ganzen Tag dort sitzen würde, dann würde die Hotline sicher untergehen." Dolores zwinkert und nimmt einen Schluck, den Blick leicht verschmitzt. Sie lässt sich durch den skeptischen Blick der anderen nicht beeindrucken. Schließlich sind sie ihre Freunde und sie ist es gewohnt, ein wenig über das Ziel hinauszuschießen wenn sie über solche Dinge erzählt.

"Kleine Frau, große Klappe, was?", ruft Thomas und die anderen lachen.

"Tja, ich kann eben bei allem was mir fehlt, durch Wortgewandtheit wettmachen. Ist ja nichts Neues", erwidert Dolores trocken. Die Runde prustet los, während sie ihren Trinkspruch erhebt, "Auf Dolores, die winzige Kriegerin!"

Die Sprüche werden intensiver, je mehr Bier und Wein über den Abend fließen. Thomas und Stefan, die beiden Spaßvögel der Runde, nehmen es sich zur Gewohnheit, Dolores durch kleine Sticheleien zum Lachen zu bringen. Wohl wissend, dass es oft auf ihre Kosten geht. "Na Dolores, brauchst du einen Kinderstuhl?", ruft Stefan in die Runde, "Oder soll ich dich tragen?" Weitere Sprüche von Thomas wie "Darfst du eigentlich schon vorne im Auto sitzen?", oder "Wenn du einen Regenschirm öffnest, siehst du aus wie ein Pilz!", folgen.

Die Bemerkungen über ihre Körpergröße sind für Dolores nichts Neues, aber in dieser geballten Form und mit den ständigen Wiederholungen kommt sie an ihre Grenzen. Als der Abend weitergeht, fühlt sie die Belastung, doch ihr Stolz lässt es nicht zu, sich anmerken zu lassen, wie sehr es ihr zusetzt. Stattdessen kontert sie weiter, ihre Stimme fest, bis Harry bemerkt, wie sich der Ausdruck in ihrem Gesicht verändert.

"Leute!", Harry erhebt sich und schiebt sein Glas von sich. "Meint ihr nicht, es reicht langsam? Zollt ein bisschen Respekt Dolores gegenüber!"

Der ätzende Humor verstummt und die Runde wird still. Einige sehen ihn überrascht an. "Ach komm, Harry!", murmelt Ronja, "Dolores kann das doch ab, oder?" Dabei lächelt sie unsicher in Dolores Richtung.

Klicken Sie hier für den Rest dieser Geschichte (noch 470 Zeilen)